Komplexitätstheorie für Lehrer

Ja klar auch für Lehrerinnen. Aber hier geht‘s nicht ums Geschlecht oder darum, dass beide Geschlechter gemeint sind. Es geht auch nicht um die „Sichtbarmachung“, dass es auch Lehrerinnen gibt, oder besser gesagt, sogar vornehmlich weibliche Personen Lehrer (nicht aber Hochschullehrer) sind. Es geht hier überhaupt nicht in erster Linie um die Personen, sondern um die Funktion, die sie erfüllen. Und diese Funktion ist: Lehrersein.

Und wenn ich auch gerne so oft wie möglich Lehrer*innen schreibe, dann nur, wenn der Fokus eben auf den Personen liegt statt auf der Funktion. Die Begriffe Lehrkräfte/Lehrpersonen empfinde ich nicht als tauglichen Ersatz, weil sie ja geradezu wörtlich darauf verweisen, dass sie Sammelbegriffe für eine Gruppe von Personen sind, und damit den Begriff „Lehrer“ in seiner Funktionsbezeichnung nicht nur nicht ersetzen können, sondern die Funktionsbezogenheit aus dem Gedanken entfernen. Das ist schlecht, denn dann können wir genaugenommen nicht über Systeme sprechen, sondern immer nur über Personen. Für die „Sichtbarmachung“ der Funktion brauchen wir aber gar keinen Ersatzbegriff, denn die Funktion als Gegenstand ist geschlechtslos wie andere Gegenstände auch (ob konkret oder abstrakt, zB. der Mond, die Kirche oder das Politische). Nur Lebewesen haben (natürliches oder soziales) Geschlecht.

Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen und Lecturer an Hochschulen sind keine praktizierenden Wissenschaftler*innen in dem Sinne, dass sie mit Forschung ihr Geld verdienen. Sie verstehen sich – zumindest im bisherigen Bildungssystem – bloß als Vermittler*innen von bereits Erforschtem und v.a. von Forschungsergebnissen anderer. Diese Vorstellung einer klaren Differenz ist nicht mehr angemessen, wenn Lehrkräfte im 21. Jh. ihre Funktion erfüllen wollen, jungen Leuten beim Wissensammeln bzw. Wissenbilden durch Lernen helfen zu sollen. Eine alte Debatte darüber, wieviel, und welche Art eigener Wissenschaftspraxis der Lehrer haben sollte, muss heute auf neuer historischer Stufe unbedingt neu aufgelegt werden. Aber darüber ein andermal. Heute geht es um etwas anderes, nämlich:

Wie (qualitativ) und wie sehr (quantitativ) darf oder soll der Lehrer die Erkenntnisse der Wissenschaft vereinfachen, bevor er sie den Schülern verabreicht/beibringt/nahebringt/zur Beschäftigung vorlegt? Wir haben in unserem Lehrerstudium in der Nachfolge Klafkis seit Jahrzehnten gelernt, dass der Lehrer zum Zwecke des Lehrens einen Gegenstand (im Alltags- und Lehrerjargon „Inhalt“, „Stoff“ genannt) „didaktisch reduzieren“, auf das „Elementare“, das „Wesentliche“ reduzieren muss, um das erst dadurch überhaupt zum Lerngegenstand gewordene Objekt für den Unterricht herzurichten. Häufig wird darin bloß ein Akt der Vereinfachung verstanden, aber damit tut man selbst Klafki Unrecht, denn seine didaktische Reduktion ist stattdessen als Akt der Selektion gemeint: Es wird ausgewählt, welchem Wesentlichen aus dem großen Horizont der Möglichkeiten von Wesentlichem der Gegenstand im Unterricht dienen soll. Das hat weitreichende Folgen, denn wenn wir die Taube als Vertreter der Gattung Vögel „behandeln“, werden wir nicht mit Kreislers „Gehn wir Tauben vergiften im Park“ in den Unterricht kommen. Vielleicht aber, wenn wir Probleme mit Tieren in der Großstadt thematisieren. Insofern ist diese didaktische Entscheidung eine Komplexitätsreduktion, und notwendig, um sich überhaupt mit etwas befassen zu können, denn mit „dem Ganzen“ kann man sich gar nicht befassen. (Alle Konzepte, die behaupten „ganzheitlich“ oder „holistisch“ an eine Sache, ein Problem, einen Gegenstand heranzugehen, betrachte ich daher mit Misstrauen.) Man kann und muss natürlich fragen, ob es der Lehrer sein muss, der diese Reduktion der Möglichkeiten, diese Auswahl vornimmt, denn es könnte ja auch der Schüler sein, warum nicht – und im Deweysch verstandenen Projektlernen ist er es ja. Aber darum geht es heute ausnahmsweise nicht. Es geht um die beliebte Frage:

Wie geht man mit Komplexität gescheit um? Genauer: Wie reduziert man Komplexität ohne zu simplifizieren?
Drei Probleme müssen dabei geklärt werden:

  1. Was ist Komplexität?
  2. Wie reduziert man Komplexität? Welche Probleme stellen sich dabei?
  3. Kann man – und wenn ja, wie – Komplexität für andere reduzieren? Was passiert, wenn man es tut? Und wenn nein, was dann?

Ich fange mit 1. an und kann nicht versprechen, wohin ich komme. Ich könnte aber ebensogut mit 2. oder 3. anfangen, denn
„man kann überall anfangen, nur nicht am Anfang“ (Faust Erdmann).
Schon mit diesem Satz sind wir bereits mitten in der Überlegung, was Komplexität ist: Komplexität hat auch mit dem bekannten Henne-Ei-Problem zu tun. Zwar ist die Henne vor dem Ei, aber das Ei ist wieder vor der Henne – natürlich nicht dasselbe Ei und dieselbe Henne. Aber Henne „an sich“ und Ei „an sich“ sind einander Voraussetzung ebenso wie Produkt. Und um mehr als das Konkrete oder Einzelne oder Besondere zu sehen, also um etwas „Wesentliches“ einer Sache zu erkennen, muss man nun mal an das „An-sich“, ans Abstrahieren ran. Aber gleichzeitig können wir nur etwas sprachlich erklären, indem wir praktisch mit der Erklärung irgendwo anfangen. Wir setzen einen Anfang. Und hier ist das Problem: Oft vergessen wir anschließend, dass wir den Anfang mehr oder weniger willkürlich gesetzt haben und dass er nicht der „wirkliche“ Anfang ist. Und wenn wir nicht den lieben Gott, oder „Das Wort“ oder das Spaghettimonster als Anfang und Urheber allen Seins bemühen wollen, dann müssen wir pragmatisch, des Erzählens, des Erklärvorgangs wegen, irgend etwas anderes als Anfang setzen. Und hier ist er: Der Big Bang. Das ist der Anfang! Aber er ist es wohl doch wieder nicht. Denn es gibt keinen Anfang in der Realität, die vollständig nicht zu erzählen ist, sondern nur in der Erzählung, die irgendwo beginnen muss, also in der tatsächlich erzählten Realität, im gewählten Ausschnitt. Man hat den Big Bang als den Anfang des beobachtbaren Weltalls gedacht, weil der Kosmos sich ausdehnt wie nach einer Explosion, und weil man – noch im linearen Denken verhaftet – dachte, es gäbe tatsächlich einen Anfang, weil es ihn geben müsse, und man müsse ihn nur finden. Wie ich sehe, ist der Mainstream sogar immer noch dran an diesem Anfangs-Glauben. Aber gleichzeitig sehen die Astrophysiker empirisch, dass sich mancherorts/manchmal auch etwas zusammenzieht und verschwindet. Das passt nicht zur Explosionstheorie. Und das Hauptproblem der Big-Bang-Ist-Anfang-Theoretiker ist auch genau die Erklärung dieses implosionsartigen Verschwindens. Schwarze Löcher, Anti-Materie, Dark Matter ist ihre Erklärung. Aber das ist ziemlich verrückt, eher metaphysisch, und mit dem Prinzip des Ockhamschen Rasiermessers auch nicht gerade im Einklang. Es ist viel einfacher und wird von Komplexitätstheoretikern, die Dialektik verstehen, auch viel plausibler gefunden, statt dessen zu denken: Es gibt etwas vor dem Big Bang, und logischerweise auch etwas vor dem Vor-dem-Big-Bang. Es gibt überhaupt keinen Anfang aus dem Nichts. Wie denn auch. Was für eine verrückte Vorstellung, dass etwas aus nichts entstehen könnte. Und wenn es kein Etwas aus Nichts geben kann, kann es überhaupt keinen Anfang geben. Wir können stattdessen viel weniger obskur denken: Es gibt eine umfassendere, größere Bewegung. Das Weltall pulsiert, wenn man die gesamte Bewegungsform des Entstehens und Verschwindens bezeichnen möchte. Nur, wenn wir keine (philosophischen) Materialisten sind – und auch die Big Bang-Theoretiker sind selbstverständlich welche, sonst hätten sie wieder die göttliche Urheber-Frage am Hals – könnten wir denken, dass aus nichts etwas entsteht. Materialisten denken aber: Alles kommt von etwas. Es wäre jetzt schön, würden wir an dieser Stelle über gute und schlechte Unendlichkeit nachdenken. Müssen wir aber nicht, und eh: tl;dr. Und außerdem Schluss jetzt mit der Physik, ich verspreche, sie kommt hier nicht wieder vor. Wer aber Lust auf eine schöne und verständliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen Naturwissenschaften und Dialektik hat, dem empfehle ich Alan Woods, Ted Grant: Aufstand der Vernunft: Marxistische Philosophie und moderne Wissenschaft.

Jetzt aber mal systematisch!

  1. Was ist Komplexität?

Manche mögen es mit der Vorstellung „Alles hat mit allem zu tun“ bewenden lassen. Aber wenn wir uns das wirklich vorstellen und nicht nur dahersagen, ist es wie mit dem weißen Rauschen: Alle Farben/Töne/Elemente sind enthalten, und nichts ist mehr zu erkennen. Es ist nur noch entweder eine leere Floskel oder etwas zum fassungslosen Staunen. Dass alles mit allem zu tun hätte, stimmt – wenn überhaupt – nur auf einer ganz hohen Ebene – am weitest möglichen weg von jeder Konkretion und jeder praktischen Bedeutung. Wir können sie für unseren Arbeits- und Alltag auf jeden Fall vernachlässigen. Auch der berühmte chaostheoretische Flügelschlag des Schmetterlings in Peking, der in New York den Hurricane auslöst, gehört in diese Abteilung des „nutzlosen Wissens“.
Die Kehrseite dieser allumfassenden Vorstellung von „Ganzheitlichkeit“ ist die totale Reduktion, die einen Gegenstand bzw. einen Vorgang nur auf einen linearen monokausalen Wenn-dann-Vorgang reduziert. Dass diese Vorstellung zu stark reduziert, leuchtet jedem ein, da sie schon in der Alltagspraxis zu jeder Menge Fehleinschätzungen führt. Und trotzdem wird sie auch unter gebildeten Leuten immer wieder benutzt, denn vor dem Handeln pausenlos die Komplexität einer Sache zu denken ist im Alltag gar nicht möglich, wir können gar nicht alle Impulsivität, das ist das Handeln nach Autopilot, abschaffen, denn dann wären wir nicht handlungsfähig. So passiert z.B. in Twitter-Kommunikationen folgendes ständig: Ich fühle mich durch eine Aussage gekränkt, also hat der andere mich absichtlich beleidigt! (Ein einfacher reflexhafter Wenn-dann-Schluss, der eigentlich unter halbwegs vernünftigen Menschen überhaupt nicht plausibel ist.)

Diese Überlegungen führen uns zur ersten wichtigen Feststellung:

  • Komplexe Dinge sind Zusammenhänge verschiedener Ebenen bzw. Elemente, die das komplexe Ding als Ganzes bilden.

Komplexität ist „Vielschichtigkeit; das Ineinander vieler Merkmale“ sagt das Wörterbuch, das mir google als erstes zeigt. Es ist eine brauchbare Definition für den Anfang, ebensogut wie viele andere. Man kann damit schon mal nicht mehr auf die beliebte Verwechslung mit Kompliziertheit kommen. Denn zwar ist Vielschichtigkeit kompliziert zu verstehen. Aber nicht alles, was kompliziert ist, muss vielschichtig sein. Und dieses Ineinander, das Verschlungensein vieler Merkmale bedeutet das Verschlungensein auch dieser Schichten. Und wenn man es mit Komplexität zu tun hat, sagen die Komplexitätstheoretiker, kann man die gesamte Komplexität auch gar nicht erfassen, so kompliziert ist sie.

Was haben wir davon, wenn wir das wissen? Eigentlich nur eines: Wir müssen vorsichtig sein. Denn wenn etwas komplex ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir es nicht oder falsch verstehen, ziemlich hoch. Wir müssen die Komplexität überall vermuten. Mehr wissen wir davon aber nicht. Denn uns fehlen noch genau zwei wichtige Informationsbündel:

  1. Wann ist etwas komplex? Und wann hat es für uns Bedeutung zu erkennen, dass es komplex ist? Und was müssen wir tun, wenn etwas komplex ist?

Das ist relativ schnell beantwort. Wir benutzen dazu das Cynefin-Schema:

CC-BY Snowden

Dies ist eine Tabelle für Entscheider in der Wirtschaft, die aber ganz gut funktioniert. Links oben, in der Komplexitäts-Ecke befindet sich alles, was mit Menschen und anderen Lebewesen zu tun hat, also auch mit sozialen Systemen und Öko-Systemen. Frösche oder Menschen sind komplexe Wesen, die „autopoietisch“ nach eigenem Betriebssystem funktionieren. Man kann sie nicht wie eine Maschine auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, sie nicht kontrollieren. Sie leben selbststeuernd, d.h. (zB. im Gegensatz zu einer Uhr), sie reproduzieren sich selbst. Diese Merkmale von Komplexität muss ich beachten, wenn ich Entscheidungen treffen möchte, die Menschen und ihr Verhalten betreffen. Im Gegensatz zu rechts unten, wo es simpel zugeht, zB. um die Frage, für welchen Vorgang die blaue, für welchen die grüne Umlaufmappe zu benutzen ist. Wichtig scheint also zu sein, wann ich Komplexität beachten muss, wann ich sie vernachlässigen kann. Denn dass die blaue oder grüne Umlaufmappe auch im weit oben angesiedelten Zusammenhang irgendetwas mit Menschen zu tun hat, das ist in der Praxis der Entscheidung blau/grün nicht entscheidend.

2. Was bedeutet dieses Verschlungensein, bzw. wie genau sind die Zusammenhänge zwischen den Teilen? Gibt es da so etwas wie Gesetze, nach denen der Zusammenhang funktioniert, oder ist alles eh beliebig? Nur zu wissen, dass es irgendeinen Zusammenhang gibt, nutzt uns so allgemein ja auch nichts. Vorausgesetzt, wir wären auf der Suche nach Handlungsoptionen. Und das sind wir ja eigentlich immer. Wenn es keine Muster, keine Gesetzmäßigkeiten gibt, dann brauchen wir aber überhaupt nicht über Komplexität nachzudenken, denn dann können wir nichts erkennen (weil es gar nichts zu erkennen gibt) und sind der Welt bloß ausgeliefert wie das Blatt dem Wind.

Sagt jetzt nicht „so genau brauchen wir es gar nicht zu wissen, denn wir sind doch bloß Lehrer, nicht Wissenschaftler“. Denn eigentlich wissen wir bis hier gerade nur so viel, dass wir voller Verzweiflung über die Verwickeltheit des Lebens und über unser Unwissen darüber die Hände über den Kopf schlagen können. (Das mag ja sogar für einige auch der Grund sein, es lieber nicht so genau wissen zu wollen, denn der Blick in diesen Abgrund macht so schlechte Gefühle.) Und leider habe ich jetzt eine für manchen schlechte Botschaft: Um mehr zu wissen, d.h. um mit dem bis hier vorgestellten Informationen über Komplexität irgend etwas mehr außer Vorsicht und Verzweiflung anfangen zu können, brauchen wir eine Komplexitätstheorie. Denn auch wenn man im Alltag viel aus dem Bauch heraus macht und machen kann, vor allem mit guter Erziehung, brauchbarem Bauchgefühl (A.K.A. Intuition) ist es mit der Komplexität leider so: Sie ist kontra-intuitiv. Jedenfalls, bevor man sich mit ihr ein bisschen beschäftigt hat. Das liegt natürlich daran, dass unsere Intuition nicht vom Himmel gefallen ist, sondern kulturhistorisch gelernt wurde in unserer Sozialisation. Und die war eben noch im alten Paradigma der Linearität, Monokausalität und der formalen Logik. Aber hej, die gute Botschaft lautet: Man kann Komplexitätstheorien auf verschiedenen Levels und ganz brauchbar schon aus zweiter und dritter Hand bekommen.

Zwei Theorien – eine Sache

Zwei Theorien kommen in Betracht, die Komplexität auf dem Zettel haben und sie in einer kohärenten elaborierten Theorie konzipieren. Die ältere ist die Dialektik auf dem historischen Level Hegel, besser noch Marx, denn dann passt sie auch zu den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften und operiert nicht mit Weltgeist oder anderen Spaghettimonstern. Das ist der dialektische Materialismus. Der Vorteil an ihm ist, dass er nicht nur wie die Komplexitäts-Konzeption in der Theorie sozialer Systeme Luhmanns die Gesellschaft und ihre inneren und äußeren Umwelten thematisiert, sondern alles. Daher ist er auch für die Naturwissenschaften anwendbar.

Die Dialektik geht ebenso wie die Systemtheorie davon aus, dass das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile.
Das heißt nicht, dass zur Summe der Elemente noch ein weiteres Element obendrauf käme, denn dann wäre das Ganze mehr als es selbst. Das geht logisch nicht. Und wenn auch die Formal-Logik in der dialektischen Logik überwunden wurde, heißt das nicht, dass sie etwa nicht mehr gälte. Sie gilt natürlich weiterhin, aber sie hat ihren historischen raum-zeitlichen Platz, wo sie gilt (ebenso wie die Newtonschen Gesetze durch Relativitätstheorie und Quantenphysik nicht außer Kraft gesetzt, sondern in ihre Geltungsgrenzen verwiesen sind). Die Dialektik nennt das „aufgehoben“ in der höheren Stufe. Wir können uns das ganz leicht vorstellen am Schreiben. Das händische Schreiben fällt nicht weg mit der historischen Stufe digitaler Schriftlichkeit, aber es ändert seinen Charakter, seine Formen, seine Bedeutung. „Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile“ heißt stattdessen, dass man überhaupt mit dem Addieren von Elementen aufhören muss, wenn man das Ganze verstehen will. Das hat weitreichende praktische Konsequenzen. Wie viele Lehrpläne, Schulorganisation und Unterrichtsentwürfe fügen einfach nur additiv Dinge aneinander ohne sie miteinander zu verknüpfen! Die Stundenplan-Organisation generell ist eine einzige Addition von Elementen, aus denen dann „die Bildung“ zusammengesetzt ist. Die Standardreaktion auf Probleme in unserer Gesellschaft ist additiv, linear und quantitativ:
Vermehrter Rechtsextremismus und Antisemitismus an Schulen? Einfach mehr Ethik-Unterricht, mehr Holocaust-Unterricht, mehr soziale Projekte! Oder: Die Hamburger Kids können nicht gut Mathe? Eine Stunde Mathe obendrauf! Sie können keine Rechtschreibung? Mehr Diktate! Die Unsicherheit – oder das Gefühl der Unsicherheit – der Bürger nimmt zu? Mehr Polizei, mehr Befugnisse der Polizei! Diese Liste kann jeder aus seiner eigenen Erfahrung fortsetzen, wenn er einmal drauf aufmerksam geworden ist. Die Schüler sind unglücklich? Addieren wir ein neues Fach „Glück“ in den Stundenplan und fertig! (Ich sag jetzt mal nix zur Informatik als Pflichtfach.) Häufig begegnet mir dies: Alles ist fertig am Unterrichtsentwurf. Aber halt! Die Schüler sind nicht ausreichend beteiligt. Lasst uns noch ein Schüleraktivierungs-Element einfügen (am besten was mit digitalen tools)! Und dann wird, ziemlich unabhängig von den Elementen, die den Gegenstand der Stunde ausmachen, recht formal noch was dazu getan, wie der Löffel Zucker, den man ins Porridge entweder zugeben, oder auch weglassen kann, ohne am Wesen des Porridge irgendetwas zu ändern. Es bleibt auch dann additiv, wenn es ein bisschen besser eingepasst ist als in dieser Karikatur. Selbst wenn es sehr gut eingepasst wurde und in seinem Charakter als bloßer Zugabe für die meisten schon gar nicht mehr erkennbar ist, bleibt es eine Zugabe, wenn nicht der gesamte Entwurf mit seinem Ansatz neu gedacht wird unter der Maßgabe der Schülerbeteiligung. Denn durch die Schülerbeteiligung könnten sich dann auch Gegenstände, Ziele und Vorgehensweisen ziemlich verändern.

Ebenso wie die Systemtheorie geht auch die Dialektik davon aus, dass sich alles bewegt, alles dynamisch ist. Das bedeutet auch, dass alles eine Genese und Entwicklung hat. Wenn wir die Dinge statisch verstehen und bloß wie ein Filmstill betrachten, dann können wir weder erkennen, woher etwas kommt, noch, wohin es geht. Wir verstehen dann eigentlich fast nichts, denn wir sind nicht im falschen Film, sondern in gar keinem Film. Auch der Zusammenhang der Elemente untereinander ist dynamisch, in Bewegung. Und es geht viel mehr um diese sich in Bewegung befindenden Zusammenhänge zwischen den Teilen als um die einzelnen Teile selbst. Diese Bewegungen kann man untersuchen. Die beiden großen Komplexitätstheorien haben Gesetzmäßigkeiten für diese Bewegungen untersucht und Muster (Geseltzmäßigkeiten) gefunden. Die dialektischen Gesetze:

  • Einheit der Gegensätze
    Die einzelnen Elemente sind nicht addiert zu sehen, sondern stehen in Widerspruch zueinander. Diese Widersprüche sind es, die die Bewegungen motivieren. Das Ganze ist eine Einheit dieser Widersprüche. Es gibt nicht Arbeitgeber und Arbeitnehmer und andere „Interessengruppen“, die auf dem Markt der Aufmerksamkeit als Gleiche nebeneinander um die Gunst der Kanzlerin ringen.
  • Umschlag von Quantität in Qualität
    Wenn genügend von etwas angehäuft ist (ob in der Natur oder sozial), dann schlägt es um in einen neuen Zustand, bekommt eine neue „Qualität“. Das finden wir in der Natur tatsächlich überall: Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, das letzte Grad Celsius, das aus flüssigem Wasser gasförmigen Dampf macht, … Ebenso in der Gesellschaft: Die letzte Erhöhung der Studiengebühren, die erst die Studenten und dann viele andere auf die Straße treibt und in London drei Tage gewalttätige Aufstände auslöst … Hier geht es bei der Zunahme an Quantität vor allem um die Verschärfung, Zuspitzung von Widersprüchen, die den Kessel irgendwann zum Platzen bringen. Immer mehr Unterricht zB. würde auch nicht zu immer mehr Lernen führen, sondern zu etwas anderem, Neuem, möglicherweise zum Gegenteil. Lange läuft die Geschichte in kontinuierlicher Entwicklung und plötzlich gibt es Revolution, verdichtete Zeiten, Knotenpunkte mit dem in der Dialektik so genannten „Qualitativen Sprung“. Danach ist alles anders. Vor der Französischen Revolution/nach der Franz. Revolution liegen Welten. Und trotzdem ist nicht alles neu und nicht alles verloren gegangen. „Altes“ ist stattdessen „dialektisch aufgehoben“ in der neuen Qualität. Das Aktuelle trägt in seiner Form immer die Spuren des Vorigen und Vorvorigen, aus dem und gegen das es entstanden ist.
  • Negation der Negation
    Das Gegenteil von einem Fehler ist auch ein Fehler, sagt der Volksmund. Wenn wir statt zu viel zu essen, gar nichts mehr essen, sterben wir auch am Essen. Aber nicht die goldene Mitte oder das Ausbalancieren ist, was hier gemeint ist. Sondern die Vorstellung, dass es nicht um A ODER B geht, sondern um etwas anderes. Die einfache (oder erste) Negation verwirft eine Idee, eine Lösung, eine Prozedur A und produziert zunächst ihr Gegenteil. Das kennt der „Volksmund“ auch: Wir schütten dann das Kind mit dem Bade aus. Erst wenn auch das Gegenteil negiert, als Lösung abgelehnt wurde, ist der Weg frei für eine grundsätzlich neue Lösung C.
    Auch das hat ja weitreichende Konsequenzen für das Denken und Entscheidungen im Alltag! Ich weise hier auf das ewige „digital ist besser als analog“ und vc vs hin als Beispiel für das leidige Entweder-Oder, das so oft den Alltag bestimmt, weil die zweite, die doppelte, die Negation der Negation einfach nicht gemacht werden will.

Für ausführlichere Erläuterungen und Beispiele, Butter bei die Fische, wie der Hamburger sagt, gibt es Lektüre. Ich empfehle neben dem oben schon erwähnten Buch vor allem Quellen, die selbst dem dialektischen Materialismus verpflichtet sind, und keine Artikel aus Wirtschaftslexika. Denn was an der Kritik am dialektischen Materialismus dran ist, kann man ja auch erst beurteilen, wenn man ihn erst mal aus der Hand ihrer Vertreter kennengelernt hat.
Eben dasselbe gilt für die Systemtheorie und ihren mal als Guru verehrten, mal als Menschenverachter missverstandenen Niklas Luhmann. Erst, wenn man etwas von seiner Theorie verstanden hat, kann man beurteilen, ob sie was taugt oder nicht. Selbst der große Habermas, ein Gegner Luhmannscher Theorie musste am Ende seines berühmten als „Habermas-Luhmann-Kontroverse“ in die Geschichte eingegangen Kampfes, nachdem er ihn dann endlich auch ausreichend gelesen hatte, zugeben: „Es ist alles falsch, hat aber Qualität“. (Übrigens war es keine echte Kontroverse, denn Luhmann hatte gar kein eigenes Interesse daran Habermas zu bekämpfen, warum sollte er auch, aber Habermas hat sich mächtig aufgeregt über Luhmanns Theorie. Was ich sagen will: Zwar muss man die Urheber der Theorien nicht im Original lesen (Hegel, Marx, Luhmann …), aber wenn man sie kritisieren und begründet ablehnen will, dann muss man die Theorien zu einem bestimmten Ausmaß kennen. Und zwar nicht nur durch die Brille ihrer Kritiker.

Das Interessante ist jetzt, dass die Luhmannsche Theorie Sozialer Systeme (wie die offizielle Bezeichnung lautet), im Prinzip die Gesetze der Dialektik bestätigt – nur mit einem anderen Apparat an termini technici. (Das hat Habermas natürlich nicht so gesehen, aber vielleicht deswegen, weil er ein anderes Verständnis von materialistischer Dialektik hat, bzw. nicht wirklich Materialist ist. – Hier ist der Punkt, wo die einen und die anderen über mich herfallen können.) Hier die systemischen/systemtheoretischen Vorstellungen vom selben:

  • Einheit der Differenz
    Differenzen sind die Unterschiede, die den Unterschied, also die Abgrenzung eines Systems von seinen Systemumwelten (= von anderen Systemen) machen. Man sieht: Auch hier geht es nicht einfach darum, das Ganze als Sack zu sehen, in dem die konstituierenden Elemente zusammengebunden sind. Paradoxien werden die Widersprüche hier genannt. Paradoxien sind Widersprüche, deren Faktoren sich in der formalen Logik gegenseitig ausschließen. Das Problem ist nur: Es gibt sie ja in der Realität tatsächlich! Die formale Logik kann das gar nicht erfassen. Wenn es nur entweder-oder geben kann, dann gibt es aber auch keinen produktiven Umgang mit Paradoxien. Die mehrwertige Logik kann das aber denken. Nur was man sich vorstellen kann, kann man machen. Und um sich mehr als entweder-oder vorstellen zu können, kann man sich das Tetralemma genannte Schema der Möglichkeiten anschauen:Da geht noch was! Und tatsächlich geht sogar in der Praxis viel mehr als Entweder-Oder. Aber man muss es vorher gedacht haben und einen operativen Weg dafür gefunden haben. Ein Mensch kann an einer Weggabelung nicht sowohl nach A als auch nach B gleichzeitig laufen. Eine Organisation schon.
    Systemische Organisationstheoretiker sehen z.B. das Händeln von Paradoxien so: Wenn wir eine Organisation, einen Betrieb, eine Schule haben, dann können wir alle nach einer Pfeife tanzen lassen – alle müssen dieselben Vorschriften A beachten, und B (das jeweilige Gegenteil) ist verboten. Wir können aber auch folgendes machen: Wir gründen eine kleine Abteilung, eine Pilotgruppe, eine Suborganisation, die etwas ganz anderes machen darf, nämlich B. Es ist nur eine kleine Abteilung, das Gros des Hauses bleibt bei seinen traditionellen Prozeduren. Wenn jetzt nach einer Weile die kleine neue Abteilung zeigt, was sie kann, dann können die anderen traditionellen Abteilungen aufmerksam werden und es entwickelt sich Kommunikation, man guckt, was die machen etc. und lässt sich was zeigen. Oh, das könnten wir doch auch probieren? Es sieht gut aus … etc. pp. Das ist der operative Weg zum Paradigmenwechsel. Denn irgendwann – wenn B besser funktioniert als A – wird die gesamte Organisation es verstanden haben und mit dem neuen Paradigma B leben, das vorher strikt verboten war.
    In der Schule ist das ein Prinzip, das wir als Alternativschulen kennen. Aber die sind ja ganz draußen aus den Schulen, sie sind in die eigene organisationale Verfasstheit B verbannt und nicht täglich in der Praxis A sichtbar. Und eben daher gibt es zwischen den z.T. sehr interessanten und schon Jahrzehnten funktionierenden Alternativ- bzw. Reformschulen und den „normalen“ traditionellen Staatsschulen so wenig Austausch und gegenseitige Befruchtung. Denn die Eltern müssen entscheiden, ihre Kinder entweder nach A oder nach B zu schicken. Die Idee – in der Wirtschaft vor allem mit agilen Digitalisierungs-Abteilungen seit wenigen Jahren in die Praxis gesetzt – ist, das Andere ins eigene Haus zu holen, und zwar ohne es dem Ganzen als neue Lösung von oben aufs Auge zu drücken einerseits – und ohne es in seiner Andersartigkeit zu beschneiden und den traditionellen Praktiken zu unterwerfen andererseits. Das ist der Trick! Den hat die Schule nicht drauf.
    Stellt euch eine Schule vor, in der es einen iPad-Zug gibt – ach, das hatten wir ja schon! Aber das Problem an diesen Klassen ist, dass sie, außer dem Einsatz des iPad (additiv!) allem anderen genauso unterworfen sind wie das ganze traditionelle Unternehmen. Sie dürfen zwar mit dem iPad arbeiten, aber sie müssen alle Schulregeln beachten und demselben Curriculum folgen etc. pp, und hinten muss dasselbe rauskommen, wie bei den anderen, nur besser. Das Additionsprinzip als Denkvorstellung, das die Lösungsmöglichkeiten bestimmt (Buchgesellschaft UND Digitalität, altes Lernen UND neues Lernen, Reformschule UND digitale Medien, Kapitalismus UND Nachhaltigkeit … es ist überall drin.
    Diese Ipad-Klassen-Schulen können das Prinzip der Paradoxie-Entfaltung durch Ausgründung (so nennt es die Wirtschaft), das eine Möglichkeit zum (gewaltfreien) Paradigmenwechsel einer Organisation sein könnte, leider nicht umsetzen.
  • Emergenz
    So nennt die Systemtheorie das Neue, das aus der Paradoxie-Entfaltung entsteht, unberechenbar, kontingent (=zufällig, denn es könnte ja auch anders sein) und doch nicht völlig beliebig, denn der Möglichkeitshorizont ist begrenzt durch die inneren und äußeren Umwelten und die sie verknüpfenden strukturellen Kopplungen …
    Das ist dasselbe, wie der Umschlag von Quantität in Qualität in der Dialektik, die auch das Zusammenwirken von Zufall und Notwendigkeit versteht: Nichts ist deterministisch festgelegt, aber es ist eben auch nicht alles möglich. Und viele Dinge müssen zusammenkommen, damit es klappt.
    „Glück ist, wenn Zufall auf Vorbereitung trifft“ könnte man in Abwandlung eines Seneca-Zitats sagen. Die Vorbereitung besteht im Rauskriegen, wie der Hase läuft. Dann erkennt man erst den Zufall, den man noch dazu braucht, um etwas hinzukriegen.
  • Komplexitätsreduktion
    Wenn wir nicht Komplexitätsreduktion als Simplifizierung betreiben wollen, also zwar behaupten, wir hätten es mit Komplexität zu tun, dann aber – Bruch! – alles aufs lineare „runterbrechen“, wenn es nicht kompliziert sein darf … dann haben wir ein Problem: Es geht nicht zusammen. Wir müssen die Komplexität als Verständnisprinzip behalten – aber wir können und müssen auch etwas auswählen. Das Geheimnis ist Selektion nach Relevanz.
    Systeme (psychische und soziale) müssen ihre Umwelten auswählen: Welche sind überhaupt für sie relevant? Nicht alle meine Umwelten muss ich beachten. Für mich fällt zB das Beobachten der Kirche weg. ich kann mir daher alle Nachrichten über den Papst, die Versuche zur Überwindung des Zölibats, die Art und Weise des Umgangs mit dem Kindesmissbrauchs etc. pp. sparen. Viel Zeit für die relevanten Systemumwelten. Ich, und nicht jemand anderes hat entschieden, welche Umwelten für mich relevant sind. Sicher muss ich auch Realitäten beachten. Die folgenschwere Missachtung von objektiv relevanter Systemumwelt kennen wir gut: Es ist die Verkennung der objektiven Relevanz der Ökologischen Systemumwelten durch die Gesellschaft, angetrieben von ihrem Subsystem Ökonomie …
    Die Auswahl der relevanten Systemumwelten für das jeweilige System (oder sagen wir den Menschen und das soziale System Schule, das hier eine Rolle spielt) ist Komplexitätsreduktion. Das schlägt sich nieder in Beobachtungszeit. Ich kann mich auf das, was für mich wesentlich ist, konzentrieren. Aber auch nicht alle Äußerungen meiner relevanten Systemumwelten müssen für mich relevant sein. Auch hier muss ich auswählen, oder selektieren, wie die Systemtheorie sagt. Die Fähigkeit, das Wesentliche (Relevante) aus meinen Umwelten zu filtern/selektieren/auszuwählen steht im Mittelpunkt der Literacy des 21. Jh. Nicht, dass es diese Fähigkeit früher nicht gebraucht hätte. Es braucht sie immer. Aber heute ist sie a) unter schwierigeren Bedingungen durch viel mehr Wahlmöglichkeiten, und b) unter schwierigeren Bedingungen durch weniger Filter, die von Autoritäten gesetzt sind. Autos haben subjektiv gesehen für mich zwar keine Relevanz. Aber ich muss sie als relevant für mich betrachten beim Überqueren von Straßen und beim Fahrradfahren. Und weiter: Der Autoverkehr ist einer der drei wichtigsten CO2-Schleudern und drum habe ich ein politisches Interesse daran, dass er verschwindet, usw.
    Nicht alle Faktoren, die in die Komplexität einer Sache eingehen, sind gleichermaßen bedeutsam für das Outcome. Selektion nach Relevanz ist auch hier gefragt. Die ist natürlich nur dann einigermaßen gut, wenn man mit der Sache ausreichend vertraut ist – und das heißt heute, dass man die Komplexität erkennt, in dem Ausmaß, wie sie für die jeweilige (selbstgestellte) Aufgabe nötig ist, und die relevanten Bewegungen zwischen den Elementen und Ebenen adäquat versteht.
    Zur Komplexitätsreduktion als selbstständiger Entscheidung vernünftig (mündig) im eigenen Interesse und im Interesse der Menschheit fähig zu sein, gehört ganz sicher zum Kern der Kompetenzen im 21. Jahrhundert.
  • Und Komplexitätsreduktion hat einen Preis: Das System, das die Komplexität seiner äußeren Umwelten reduziert (und das muss es), kann dies nur, indem es gleichzeitig die eigene innere Komplexität erhöht. Jedenfalls nach Luhmannscher Theorie. Das, was an äußerer Komplexitätsreduktion getan wurde, wird „nach innen kopiert“ und hinterlässt dort seine Spuren. Ich stelle es mir bezogen auf mein Denken so vor: Je mehr ich meine Umwelten beobachte und Vorstellungen darüber bilde, wie ich diese Welt(en), d.h. andere Menschen, Interaktionssysteme, meine Firma, das Bildungswesen, die Gesellschaft … verstehen möchte, desto mehr wächst in meinem Denken die Komplexität. Für Organisationen gilt dasselbe, allerdings nicht im Denken, denn das tun sie nicht, sondern im Kommunizieren von Entscheidungen. Je mehr „draußen“ an Komplexität reduziert wird, desto mehr wird „drinnen“ aufgebaut (zB in Form neuer Abteilungen oder/und Formularen/Prozessen).
  • Da überlege ich als Lehrer nochmal neu: Wie krieg ich das meine Schüler gelernt? Indem ich ihnen ersatzweise alles vor-reduziere? Wohl kaum. Wie alles andere auch, lernt man auch diese Fähigkeit nur, indem man sie ausreichend benutzt. Wie sollen Schüler lernen, das (für sie oder für eine bestimmte Fragestellung in der Klasse) „Wesentliche“ eines Gegenstands (oder einer Repräsentation eines Gegenstands) herausfinden lernen, wenn der Gegenstand schon zu diesem „Kern“ zurechtgeschnitzt wurde? Und woher weiß der Lehrer so sicher, dass seine Schnitzerei nicht gerade etwas für einen Schüler wesentliches weggeschnitzt hat dabei? Die sog. „Didaktische Reduktion“ ist nicht erst seit heute umstritten (Projektdidaktik hat sie schon immer misbilligt), aber heute, wo jeder lernen muss, sich selbst einen Reim auf die „immer komplexer werdenden“ Verhältnisse zu machen, und zwar einen, der funktioniert, muss man m.E. die „didaktische Reduktion“ nochmal neu unter Reduktionismus-Verdacht stellen und ihren Platz im Unterricht überdenken.

Es klingelt! Ich muss Schluss machen, aber hier noch ein Hinweis auf Systemtheorie für Lehrer: Zwei Artikel sind interessant IMHO aus meiner eigenen Produktion: Grenzen ziehen, wahren, überwinden. Bildung als Arbeit im Grenzgebiet und Systemtheorie für Lehrer
Und wer Spaß an der Denke gefunden hat, der könnte dann eine gescheite und verständliche Einführung in die Systemtheorie von bloß jeweils 120 Seiten lesen: Entweder Fritz B. Simon, Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, oder Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht, oder Christian Schuldt, Systemtheorie. Theorie für die vernetzte Gesellschaft
Aber Vorsicht! Mein Kollege an der Hochschule, der das Modul „Effekte der Digitalisierung“ vertritt, sagte neulich: „Geht dir das auch so? Wenn man die Systemtheorie mal verstanden hat, gibt es kein Zurück mehr.“ Da hat er Recht.

2 Gedanken zu „Komplexitätstheorie für Lehrer

  1. Liebe Lisa Rosa,

    deine Theorie integriert verschiedene Elemente, die auch bei meiner Arbeit eine Rolle spielen, zu einem Gedankengebäude, dem ich mindestens mal aus ästhetischen Gründen wünsche, dass es sich als schlüssig erweisen möge. Als kleinen Beitrag dazu möchte ich folgende Anmerkung verstanden wissen.
    Nach dem ersten Durchdenken vermute ich, dass du Komplexität mit mehrwertiger Logik verbindest und in Dichotomie zu zweiwertiger Logik und Linearität verstehst. Das Cynefin-Modell legt aber etwas anderes als den direkten Umschlag des einen in das andere nahe, nämlich einen gestuften Übergang: Es gibt unterhalb von Komplexität bereits mehrwertige Logik, als Kompliziertheit. Kompliziert ist ein Anforderung, die mehrere Lösungen hat, sodass kein linearer (monokausaler) Zusammenhang besteht, aber ein Algorithmus zu ihrer Lösung angegeben werden kann. Sie ist also mehrwertig (bietet mehr Lösungen als ja/nein bzw. richtig/falsch) aber prinzipiell vorausberechenbar. Komplexe Anforderungen sind dagegen auf nicht vorausberechenbare Weise mehrwertig. Daher heißt der erste Schritt zur Lösung von komplexen Anforderungen „probe“: Der Grad seiner Passung (das Qualitätskriterium für Lösungen komplexer Anforderungen) erweist sich erst ex post.
    Ich schreibe das hier, weil es mir bedeutsam für den Weg zu Komplexitätsverständnis zu sein scheint.

    Freundliche Grüße
    Norman

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    • Lieber Norman, ich danke dir herzlich für deine Rückmeldung!

      Ja, Komplexität hat mit mehrwertiger Logik zu tun, meiner Meinung nach, allerdings bin ich natürlich nicht alleine damit sondern verstehe so die Dialektiker und Systemtheoretiker. Aber ich verstehe es natürlich nicht dichotomisch – entweder formale (zweiwertige) Logik oder komplexe Logik. Und auch die Dialektiker und Systemtheoretiker tun das nicht. Ich dachte, das hätte ich klar herausgestellt: Komplexe (bzw. dialektische) Logik enthält die formale Logik – bzw. hebt sie dialektisch auf. Wenn ich mich aus dem Fenster des 8. Stocks auf den Asphalt stürze, bin ich tot. Hätte ich es nicht getan, wäre ich am Leben. Das bleibt enthalten, und ist in der einfachen Ursachenlogik gültig. Aber wir kommen mit dieser Sicht nicht sehr weit, wenn wir die Ursachen des Sturzes beobachten/klären wollen. Denn dann können wir keine Kette von Kausalitäten sehen, sondern müssen die gesellschaftliche Verwickeltheit ins Auge fassen.

      Das Cynefin-Modell ist ein Praxismodell für Wirtschaftler 😉 Es ist nur dazu da, zu unterscheiden, wann eine Situation aus pragmatischen Gründen als komplex, kompliziert, chaotisch oder simpel zu betrachten ist und wie man dann handeln muss. Mehr nicht. Denn wenn man’s genau nimmt, sind natürlich alle Situationen, die mit lebenden Systemen zu tun haben, komplex. Aber für die Praxis spielt es eben eine Rolle, solche Unterscheidung zu treffen. Z.B. wäre ein Brand im Landesinstitut für Lehrerfortbildung infolge einer Explosion zwar eine recht komplexe Angelegenheit – wenn es um die Ursachen geht. Aber wenn es während des Brands um die Menschen im Gebäude und sinnvolle Handlungsmöglichkeiten geht, handelt es sich praktisch gesehen wahrscheinlich um eine chaotische Situation. Ich hoffe, der Direktor weiß das und löst sofort die notwendigen Operationen aus, anstatt an die Komplexität zu denken und anzufangen nachzuforschen, welche Ursachenbündel zu der Explosion geführt haben mögen und wie man sie hätte vermeiden können, und dann einfach mal was neues auszuprobieren.

      Das C-Modell will keinen gestuften Übergang nahelegen. Die 4 Situationen sind alle da und Übergänge zwischen allen möglich. Am häufigsten kippt eine Situation, die vermeintlich als simpel eingeschätzt wurde, ins Chaotische. Mit dem Gesetz des dialektischen Umschlags von Quantität und Qualität hat das Schema nichts zu tun! Es ist kein epistemologisches Modell zum Verständnis von Komplexität.

      Allerdings hast du mit deiner Idee, Komplexität als eine Art höherer Stufe von Kompliziertheit zu sehen, insofern eine dialektische Aussage gemacht, als du sagen könntest, dass die Anhäufung von Kompliziertheit, etwa als immer mehr Ursachen und Ebenen, auf denen Ursachen zu suchen sind, sich zu einem Bündel auswachsen (quantitativ) oder immer schärfer werdende Widersprüche (Verschärfung ist auch quantitativ), irgendwann in einen dialektischen Sprung zur neuen Qualität der Komplexität führt. Dass es für alles schon in der vorigen Qualität eine „Vor“form geben muss, aus der die Form der neuen Qualität entstehen kann, ist dialektisches Gesetz.
      Mehrere Lösungen gibt es ja meistens, das ist nicht der Kern mehrwertiger LOGIK, und nicht das Problem, das das Tetralemma beschreibt. Ein Mensch könnte bei einer Weggabelung zwar nicht gleichzeitig nach A oder B gehen, aber er kann temporalisieren, d.h. erst nach A und dann in einem zweiten Gang nach B gehen. Aber es ist ja nicht als praktisches Problem gedacht, sondern als Logikproblem, und die Bedingung ist hier gesetzt: gleichzeitig. Und es geht ja nicht um mehr oder weniger Lösungen, sondern es geht um die Paradoxien und ihren Umgang damit. Etwas, was sich nach der formalen Logik gegenseitig ausschließt, zusammenbringen zu können, ohne unlogischen Quatsch zu machen. Und in unserer sozialen Denkwelt ist die zweiwertige Logik immer noch die übliche Basis des Denkens, die „Fünfte Disziplin“ des systemischen Denkens (Pete Senge) ist in einigen Wissenschaften auf dem Weg zu state of the art, aber noch lange nicht im Alltagsdenken angekommen, das nach wie vor mit zweiwertiger Logik operiert und alle unsere Tätigkeiten, auch die Lehrertätigkeit bestimmt.

      Du sagst: „Komplexe Anforderungen sind dagegen [gegenüber der Mehrwertigkeit der Kompliziertheit] auf nicht vorausberechenbare Weise mehrwertig . Daher heißt der erste Schritt zur Lösung von komplexen Anforderungen „probe“: Der Grad seiner Passung (das Qualitätskriterium für Lösungen komplexer Anforderungen) erweist sich erst ex post.“ Ich stimme vollkommen zu! Komplexität ist NICHT NUR mehrwertige Logik, sondern auch Unberechenbarkeit. Danke für diese Ergänzung. Da habe ich in meinem Text offenbar etwas sehr wichtiges vergessen zu thematisieren. Aber es kommt auch noch mehr dazu, nämlich Selbstorganisation und operative Geschlossenheit (Autopoiesis) des komplexen Systems (die Unberechenbarkeit rührt genau daher, denn sie ist ja nicht chaotisch-beliebig, sondern kontingent).

      Ich sehe, mein post wirft wahrscheinlich mehr Fragen auf als es klärt. Umso mehr freue ich mich über solche Rückmeldungen und Anschlussdiskussionen.

      Wir sehen uns bald und sprechen ausführlich über alles, was interessiert.

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