Kulturzugangsgerät, kleine Abhandlung

Ich wurde gebeten, etwas zu meiner Wortschöpfung „Kulturzugangsgerät“ zu sagen, etwas Zitierbares. Dem komme ich jetzt nach. Aber vor einer zitierbaren systematischen Erklärung, möchte ich etwas Narratives zur Genese dieser Begriffserfindung mitteilen. Darin liegt nämlich immer auch schon eine Begründung. (Ich bin eine Freundin des historischen Denkens, kein Geschichtsliebhaber.)

Also die Erzählung:
Eines Tages (historisch genauer: vor einigen Jahren) hatte ich dann endlich die Faxen dicke. Es ging mir so sehr auf die Nerven, dass ich mit meinem ersten Smartphone (so ein Dingens, mit dem man tausend verschiedene Sachen machen kann) an einem Ort der Bildung, genauer der Lehrerbildung, wo ich zum Arbeiten ein- und ausging, also kurzgesagt, an einer Oase des Lernens (möchte man meinen) immer herablassend belächelt und geneckt wurde. Meistens so in der Art: „Na, haste dein Spielzeug wieder dabei?“, „Macht Spaß, was?“, „Wieso kommst du denn überhaupt in die Cafeteria, wenn du eh bloß in dein neues Spielzeug gucken willst?“. Ich immer grimmiger. Nur eine Ansprache fand ich lustig: „Was drückst du auf dem Gerät herum? Drück lieber auf mir herum.“

Jedenfalls war doch klar, dass ich auf all diese Ansprache antworten musste. Und ich als alte Lehrerin fing an zu erklären, was man damit alles machen kann – lernen und arbeiten natürlich – und wie einfach das wäre, und so weiter und so fort. Damit war ich erst recht schief angesehen. Ich wäre immer so unangenehm missionarisch. Das käme nicht gut. Jetzt hänselten sie mich nicht mehr, jetzt wurden sie böse.

Also habe ich mir eine schnippische Replik zum „Spielzeug“ ausgedacht. Wenn sie mich runtermachen, weil ich bloß spielen würde (während sie doch alle so ernsthaft wichtige Dinge tun beim Plaudern während des Mittagessens), dann schieße ich zurück mit:
„Waaaas! Haben Sie etwa noch kein Kulturzugangsgerät? Ja wie schaffen Sie das heutzutage denn überhaupt ohne Kultur, so als Lehrerfortbildner?“ Jetzt waren sie verblüfft und verunsichert. Damit war der Referenzrahmen neu gezimmert, und ich hatte dem Kind einen Namen gegeben, der zu ihm passte.

Soweit die Geschichte.

Jetzt zur Klärung

Geklärt werden muss, was

  1. Kultur
  2. Kulturzugang
  3. Kulturzugangsgerät

ist. Also

  1. Was ist Kultur?

Kultur nenne ich das Bündel, die Gesamtheit der Gegenstände bzw. Artefakte (materiell, physisch wie ideell, geistig), die zu dem jeweiligen „Betriebssystem“ gehören, vermittels dessen sich die Menschen (bzw. Menschheit) zu einer gegebenen Zeit (historisch) an einem bestimmten Ort (räumlich) ihre notwendige Gesellschaftlichkeit organisieren. Kultur ist also etwas Gesellschaftliches (Soziales), das einerseits überhaupt die Menschheit als Kollektiv(e) und insgesamt als Spezies konstituiert und am Leben erhält und andererseits jedes einzelne Individuum zur Person, zum Mitglied dieser Gesamtheit werden lässt. Kurz: Menschheit und Einzelmenschen gibt es nur mit Kultur. Und Kultur ist immer historisch konkret bedingt durch das, was die Menschheit sich bisher schon als Formen ihrer Gesellschaftlichkeit geschaffen hat einerseits und andererseits durch die Begrenzungen, die jeweils historisch konkret die Umwelt ihnen bietet, diese Potenziale zu realisieren. Aber auch durch die Herausforderungen durch ihre Umwelt (äußere und innere), die sie zwingen, über diese Begrenzungen hinauszugehen.
Für die Erschaffung der Kultur und für die Teilhabe an ihr braucht es Medien. Medien sind mehr als ein Gerät (ein Füller, ein iPad und so weiter). Geräte sind bloß ein Teil der materiellen Voraussetzungen. Zum Verständnis der Unterscheidung dies:

 

  1. Warum und wofür ist Zugang/Nichtzugang zur Kultur entscheidend?

Der Zugang zu einer Kultur ist die grundlegende Voraussetzung für die Teilhabe an ihr. Teilhabe heißt: Verstehen, Benutzen (Genießen) und Mitgestalten. Diese drei sind nicht in einer Reihenfolge zu sehen, sondern gehören im Lebensvollzug zusammen: Ich verstehe nur, indem ich benutze und mitgestalte. Ich kann nur benutzen und mitgestalten, indem ich verstehe.

Welche Voraussetzungen braucht ein Kulturzugang? Der Zugang – die Möglichkeit, sich mit der jeweiligen Kultur tätig in Beziehung zu setzen, aber auch die Fähigkeit, sie sich zu eigen zu machen, sie zu lernen – ist nicht nur von einem Gerät, sondern auch noch von vielen anderen Dingen abhängig – z.B. von der Erlaubnis der Umwelt: Was nutzt mir das Klavier im Wohnzimmer, wenn es abgeschlossen ist oder wenn mir die Mutter immer den Deckel auf die Finger haut, wenn ich spielen will? Oder von anderen Bedingungen, z.B. einer Anleitung, wie man damit umgeht. Was nutzt mir das Klavier, wenn ich keinen Klavierlehrer habe, keine Noten, keine Klaviermusik zu hören bekomme, niemand in meiner Umwelt Klavier spielt? Aber ohne Gerät ist alles nichts.

  1. Warum und seit wann braucht man Geräte dafür?

Heute wird immer von „Technologie“ gesprochen. „Mediengestütztes“ oder „technology enhanced“ Lernen ist Unsinn. Die Leute, die das sagen, meinen immer nur Geräte. Das ist eine Reduktion des Medienbegriffs und des Technologie-Begriffs, in dem Kultur und Gesellschaft verloren gegangen sind. Mit dieser Toolifizierung, besser Devicifizierung kann man auch gar nicht verstehen, warum und wie Computer und Internet tatsächlich eine neue Kultur in Gang bringen. Immer schon in der Menschheitsgeschichte gab es Medien und Geräte. Mit dem Klavier ist das leicht zu verstehen, dass es ohne Device nicht geht. Aber Singen, Sprechen, Tanzen, Lesen? Dazu braucht man doch kein Gerät? – Doch. (Ich hab mir jahrelang die Seele aus dem Hals gesungen beim Versuch meinen Kehlkopf und Stimmband-Apparat (!) nebst allem, was sonst noch am Kopf dazugehört, zu einem Sopran-Gesangsapparat zu schleifen.) Und natürlich braucht es Geräte für jede Art von Kommunikation. Selbst das einfachste, älteste, das Zeigen geht nicht ohne. Am Stimmapparat und am Zeigefinger mag nicht viel Gerät zu erkennen sein, weil so viel Biologie („Natur“) dran ist, und wir uns „Technologie“ gerne als was aus Metall und Plastik vorstellen, was uns nicht angewachsen ist. Kurz: Ohne Gerät keine Kommunikation.

Welche Geräte sind heute die wichtigsten Kulturzugangsgeräte?
Es geht nicht um die neueste Mode, oder das neueste Gadget. Es geht um den Computer mit Internetzugang, in welcher Form auch immer. Ob wir ihn nun auf dem Tisch als alte Dampfkiste stehen haben, oder als luftiges Zusammenklappbares mit uns herumtragen, oder als Smartphone in der Hosentasche oder umgeschnallt am Arm – das ist nebensächlich. Aber ohne ein solches Gerät, mit dem wir lesen und schreiben, hören und in das wir hineinsprechen können, Bilder und Filme angucken und machen, mit dem wir die Nachrichten von BBC, von unserer Tante aus Rostock oder von unserem Steuerberater erhalten, weitergeben und selbst produzieren, und aus dem wir die aktuellen Informationen über Schweinezyklus und Lehrerarbeitslosigkeit holen – ohne das also, sind wir in Kürze dumm wie Stroh, weil wir auf uns selbst und auf die allernächste Umgebung geworfen sind, wo doch die Welt, deren Mitglieder wir sein müssen, längst im globalen Maßstab kommuniziert. Alle diese Funktionen konnten wir vordem auch mit Einzelgeräten, dem Rennen in Einzelbibliotheken und dem Sitzen in Klassenräumen und Hörsälen.
Aber jetzt kommt der eigentlich wichtige Unterschied: Nicht nur, dass dieses Gerät alle anderen in sich vereinigt – zugegeben sie dabei in ihrer Form und Bedeutung verändert, aber eben nicht vernichtet – : Es enthält auch Teile unseres Gehirns (wenn wir unser Gedächtnis dorthinein auslagern, was ich mit Freude tue), und durchs Teilen im Netz und das Netzwerken als Kommunikationsverfahren, sind wir mit diesem Gerät und den damit erreichbaren sozialen Medienformen, mit denen und in die hinein wir unser Denken erweitert haben, untrennbar verwoben mit anderen Teilnehmern der Netzwelten und deren Gehirnen. Alexander v. Humboldt musste überall hinreisen, um sich Informationen aus der Welt zu holen. Das hat ihn zu einem seine Kultur überragenden Menschen gemacht. Das Kulturzugangsgerät bringt alles zu mir.

Und nicht vergessen: Der Computer als physisches Ding ist nur das Gerät für den Zugang dazu, die allerunterste Voraussetzung, aber trotzdem schon das Ding, das den Unterschied macht. Wer solchen Zugang nicht hat, bleibt in Zukunft, was früher Analphabet hieß. Wer solchen Zugang zur Teilhabe am Dauergespräch der Kultur mit sich selbst nicht nutzt, obwohl er ihn hat, wählt die Unmündigkeit für die Kultur des 21. Jahrhunderts. Mag sein, dass er Gründe hat, und dass er sich dabei wohlfühlt. Und dürfen darf er das sowieso. Aber ich würde immer am liebsten in der Kultur leben und mitmischen, die gerade ist. Ich mag‘s einfach nicht, wenn andere mir meine Lebensumwelt an mir vorbeigestalten ohne dass ich dabei mitreden kann. Mit dem jeweils dazugehörenden Kulturzugangsgerät.

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  10. Auch im Zusammenhang mit den Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, wird der Begriff geschärft. Ohne Hab und Gut, aber immer mit „Kulturzugangsgerät“! Klar, wer würde auf Informationen, Kontakt mit der Familie und vieles mehr verzichten wollte? Wie du schreibst, sie organisieren sich „ihre notwendige Gesellschaftlichkeit“. Wie sagte ein Flüchtling vor einiger Zeit im Radio: „Eher verzichte ich auf meine Schuhe als auf mein Smartphone!“

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