Was ist das *dings* und was bedeutet es für die Geschichtsdidaktik? Anmerkungen zur Tagung Geschichte Lernen digital

Was ist das *dings* und was bedeutet es für die Geschichtsdidaktik?
Anmerkungen zur Tagung Geschichte Lernen digital

Diese Tagung war für mich äußerst anregend, und ich danke noch einmal herzlich für die Einladung!
Viele Gedanken haben sich mir im Nachklapp der Tagung zur Weiterführung aufgedrängt. Einen Strang davon möchte ich hier grob und vorläufig skizzieren.

1. Das Unterscheiden macht den Unterschied

Unterschieden wird leider selten das Normative vom Analytischen. Diese Unterscheidung zu treffen, ist kein Bestandteil des Alltagsbewusstseins. Auch Didaktiker haben in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zuweilen Mühe damit, obwohl gerade für sie, die an der Grenze beider Denkräume operieren, das Unterscheiden dieser beiden Dinge zum grundlegenden Handwerkszeug gehört. Denn die Kenntnis davon, wie Lernen funktioniert (analytisch), die Befugnis zu definieren, was gelernt werden soll (normativ), und die Fähigkeit Konzepte zu schmieden dafür, wie das Lernen der Anderen auf dieses Ende hin erfolgreich organisiert werden kann (beides enthalten) – das gehört zum Geschäft der Didaktiker. Und das Letztere, nämlich das Schmieden didaktischer Konzepte, wird bei einem Mangel an oben genannter Unterscheidungsfähigkeit ein Problem.

Dass im Alltag eine ständige Verwechslung und Vermischung des Normativen mit dem Analytischen stattfindet, zeigt z.B. dieses kleine Missverständnis auf der Tagung:

Ich hatte angeregt, doch nicht immer die Praxis der Theorie dualistisch entgegenzustellen. Sofort beeilten sich alle zu versichern, dass man in Augenhöhe diskutiere, und dass keinesfalls die Didaktiker (sich als Theoretiker angesprochen fühlend) die Lehrer (sich als Praktiker verstehend) diskriminieren wollen.
Was war passiert? Das analytisch gemeinte Statement war normativ verstanden und beantwortet worden. Und mehr noch: Die Praxis war mit dem Praktiker und die Theorie mit dem Theoretiker verwechselt worden. Ich hatte es mit meinem Statement aber nicht auf wertschätzendes Verhalten von Personen in der Kommunikation, sondern auf ein reflektiertes Theorie-Praxis-Verständnis abgesehen, das nicht dualistisch ist, sondern ermöglicht, Praxis und Theorie von jedem Standpunkt aus und in jeder Phase des Konzeptualisierens und Erprobens von Tätigkeit miteinander zu verschränken. Ein schneller Wechsel zwischen dem Sein als Tun (Praxis) und dem Denken über das Sein (Theorie) – kennzeichnet die bewusste Tätigkeit. Und selbstverständlich ist auch das Theoretisieren selbst eine Tätigkeit, also Praxis. Dass Praxis und Theorie im Prozess gesellschaftlicher Tätigkeit miteinander verschränkt sind, und wie das Normative dabei mitspielt, habe ich in den folgenden Grafiken zu visualisieren versucht:

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2. Begriffe bilden kulturhistorische Denk-Zustände ab und hängen an ihrer Epoche

Eine weitere sehr wichtige Unterscheidung ist die Unterscheidung zwischen einem Begriff als Alltagsbegriff und dem Begriff einer Sache als wissenschaftlichem Begriff.
Begriffe sind nicht bloße Namen, bloße symbolische Bezeichnungen einer Sache („c’est une pipe“) sondern enthalten immer auch den Horizont des Verständnisses von dieser Sache („ceci n‘est pas une pipe“). Im Englischen heißt Begriff darum auch concept, (Auffassung, Idee, aber eben auch: Plan). Verständniskonzepte, konzeptionelle Modelle von allen Dingen in seiner Umwelt hat jeder Mensch – er muss sie haben, ganz ungeachtet ihres Niveaus und ihrer Angemessenheit, denn sie sind Voraussetzung für seine Handlungsfähigkeit.
Üblicherweise und wenn im wissenschaftlichen Denken ungeschult, haben wir Alltagsbegriffe von allen Dingen. Wissenschaftliche Begriffe haben und nutzen viele nur in dem eigenen abgegrenzten Gebiet ihrer Einzelwissenschaft. Ein wissenschaftlicher Begriff – das wissen wir alle – muss ganz anderen Bedingungen genügen als ein Alltagsbegriff. Den Unterschied zwischen beiden habe ich hier in einer Grafik zu visualisieren versucht – links der Alltagsbegriff, rechts der wissenschaftliche Begriff zur Eigenschaft „menschlich“:

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Zu sehen ist, dass Alltagsbegriffe gerade keinen widerspruchsfreien Definitionsraum haben dürfen, denn sie müssen ja die verschiedensten Ansichten und Perspektiven enthalten können. (Eben das, was vermeintliches Verstehen als Voraussetzung der andernfalls unmöglichen Kommunikation erlaubt.)
Alltagsbegriffe sind in der Regel  keine subjektivistisch aus der eigenen Psyche generierten Ideen des Einzelnen, sondern gesellschaftliche Übereinkünfte. Sie machen dann wenig Probleme, wenn sich die gesellschaftliche Entwicklung in einer Konsolidierungsphase befindet, wie wir sie in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten. Wir waren auf dem Peek der Buchgesellschaft, der Industrialisierung, des Gutenbergzeitalters. Aber nach dem Peek geht es abwärts, bevor es wieder aufwärts geht. Und Probleme machen Alltagsbegriffe dann in der sich ständig weiter zuspitzenden Situation einer (global-) gesellschaftlichen Dauerkrise, die nicht mehr mit „Mehrvomselben“ und Optimierungsleistungen zu beheben ist, sondern in einen radikalen Wandel, in einen Epochenwechsel führt. In einer solchen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung geraten die Alltagsbegriffe in Widerspruch mit dem „neuen“ Alltag. Das irritiert. Die bereits über 40jährige Dauer-Schulreform-Krise ist der Nichteinsichtigkeit in die Tatsache geschuldet, dass Konzepte für eine gewünschte Änderung von Praxis, die funktionieren sollen, ein Zurückgehen auf die Stufe des Denkens verlangen, die die Voraussetzungen für das Konzeptebilden unter neuen Bedingungen bildet: Auf die Prüfung der Wissenschaftlichkeit von Begriffen, mit denen gearbeitet wird. (Mal ganz abgesehen davon, dass gerade hier außerdem ständig „Die Welt als Wille und Vorstellung“ gespielt wird.)

Dass wir von Anfang an in unserer Ontogenese Vorstellungen von unserer Umwelt haben, auf deren Hintergrund wir alles interpretieren und unsere Erwartungen bilden, ist auch der Grund, warum nicht das Empirische Ausgangspunkt des Denkens sein kann, sondern die impliziten und expliziten Vorstellungen von dem zu untersuchenden Gegenstand, die als – leider oft unbedachte – Voraussetzungen alle empirischen Ergebnisse mitbestimmen, also das „Vor-Empirische“. Fast immer gehen in die Reflexion und Präsentation dieses „Vor“ nur die einzelwissenschaftlichen Theoriemodelle und methodologische oder gar nur methodische Fragen ein – fast nie die erkenntnistheoretische und philosophische Anbindung. Im Gegenteil: Diese Ebene seiner Voraussetzungen bleibt dem Empiriker dabei oft selbst unbewusst. Hier der Versuch einer Visualisierung der Layers – der im Prozess des Denkens nicht hierarschischen Verständnisschichten:

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Alle diese Layers haben ihre eigenen Regeln, die sich nicht immer einfach zur Deckung bringen lassen. Ändert man oder ändert sich an einer Stelle, an einem Element in einem der Layer etwas, wackelt das ganze Gefüge. Und nicht etwa, weil eines aus dem anderen linear abgeleitet wäre, sondern weil es einen komplexen Zusammenhang gibt. Das wird gerne von Einzelwissenschaften vergessen, und schon ist man vor der Wand ohne sie zu sehen.

Warum muss man gerade in unserer Zeit auf der Verwandlung von Alltagsbegriffen in wissenschaftliche Begriffe bestehen und was heißt das eigentlich?

Alltagsbegriffe enthalten das Verständnis einer Sache in ihrem Zustand VOR der Krise. Sie sind außerdem im Bewusstsein als ahistorische, oft als „Konstante“ empfundene vermeintliche objektive Abbildungen der Sache. Ändert sich die Umwelt (die Sache), wird ihr normativer Charakter deutlich – jedenfalls demjenigen, der die Historizität der Weltanschauungsapparte (vgl. de Kerckhove ?), die alle Medien, also auch Begriffe als Symbolmedien sind, akzeptiert.
Mit der Rekonzeptualisierung, der immer eine Historisierung vorausgehen muss, werden aus alten Alltagsbegriffen (die ja sozusagen ehemals wissenschaftliche waren, aber eben aus einer anderen Wissenschaftsepoche mit einem überkommenen Stand) neue, der veränderten Sache adäquatere wissenschaftliche Begriffe.

3. Das *dings* als wissenschaftlicher Begriff

Sprechen wir vom Digitalen oder von der Digitalität?

Das Digitale verstehen wir als ein Ding neben anderen. Es gibt eben das Digitale im Unterschied zum „Analogen“, und beides existiert gleichzeitig. Das Netz neben dem viel mehr Gegenstände umfassenden Nichtnetz, so jedenfalls denkt es sich der sporadische Onliner, der „digitale Besucher“, der die Online-Welt ab und zu betritt, wenn sie sich als praktisch nützlich erweist. Es ist ihm im Netz  alles „virtuell“ – d.h. bei ihm „unecht“. Und er erschrickt sich, wenn plötzlich in der Net-to-Face-Kommunikation echte Menschen quasi aus dem Netz heraustreten und in Real Life mit ihm kommunizieren. Was heißt jetzt virtuell? Dabei steckt der Digitale Besucher seine Nase den ganzen Tag in Bücher, die auch nur externalisiertes Wissen abbilden, das in einem externen Speicher virtuell abgespeichert ist, kohlenstofflich fixiert. Der kommunikative Zusammenhang eines Einzelbuches, in vielen anderen Büchern fixiert, die lebendigen mündlichen Kommentare der Fachkollegen, die Verständnisse und Missverständnisse der Rezeption, der gesellschaftliche Gebrauch dieses Textes in verschiedenen Epochen, alle sind im Buch selbst nicht enthalten, sondern müssen mühsam aus verschiedenen anderen Texten und weiteren face-to-face-Kommunikationen rekonstruiert werden, obwohl sie zu diesem Buch gehören. Darüber, wie virtuell das ist, denken wir als Gutenberg-Galaxis-Sozialisierte aber kaum nach und verwechseln das „Haptische“ mit dem „Echten“. Es ist uns nämlich zur „zweiten Natur“ geworden, das, womit wir groß geworden sind, für das Echte zu halten. Es ist die Welt, in und mit der wir unser eigenes individuelles und zugleich das gesellschaftliche Bewusstsein geschaffen und mitgeschaffen haben, wenn wir unter den Bedingungen der Typographie als Leitmedium aufgewachsen sind. Jeder hält die Welt, in der er sich zu dem gemacht hat, was er ist, für die Welt „an sich“.
Aber wir sind Historiker und haben historisch denken gelernt. Und mehr noch: Wir wollen andere anleiten, selbst historisch denken zu lernen, bzw. andere anleiten, andere beim historisch Denken Lernen anzuleiten. Und darum müssen wir diese Hürde nehmen. Vielleicht müssen manche dabei auch ihre Vorstellung von dem, was historisch Denken heißt, expandieren in eine neue Dimension.

Die Digitalität hingegen enthält das Digitale als eine Möglichkeit der Realität. Die Kulturepoche der Digitälität enthält  auch das Nicht-Digitale – aber in dieser einzigen Welt der Digitalität gibt es das Nicht-Digitale eben nur zu den Bedingungen der Digitalität. Das gilt für den Computerverweigerer in Konstanz genauso wie für einen Einwohner von Cotonou oder Mumbai ohne Zugang zum Internet. Was bedeutet das?

Alle Kommunikations-Medien, die die Entwicklung der Gesellschaftsgeschichte hervorgebracht hat, sind aufgehoben und zugleich enthalten im aktuellen Leitmedium, das die Epoche konstituiert in ihrer je spezifischen Medienkonstellation bzw. Mediensystem (so Michael Giesecke). Aber alle vorigen Medien und auch das Leitmedium der vorigen Epoche bekommen dabei einen neuen Systemplatz in dieser Konstellation. Das alte Leitmedium ist entthront. Andere Medien werden unter den Bedingungen des neuen LM mit bisher unbekannten Möglichkeiten aufgewertet, in ihrer Bedeutung aber abgeweretet Ein Stift zum Schreiben kann ein Kugelschreiber sein, der keine große Rolle mehr spielt, aber jetzt eben auch ein touchscreen-Stift zum Schreiben, Wischen und Berühren in einem Smartphone werden kann (Beispiel aus der gerätetechnische Ebene der Medialität). Selbst das erste externe Wissens-Speichermedium noch vor der Erfindung der Schrift, die mesopotamischen Tonkugeln, sind in der Kultur der Digitalität zumindest als Information über ihre Existenz mehr Menschen zugänglich, als je zuvor, uns allen z.B. gerade jetzt und hier! Der Märchenerzähler der oralen Epoche und der Bänkelsänger der vortypografischen Epoche, die wichtige Funktionen der Nachrichtenvermittlung fürs „Volk“ hatten, werden jetzt im Internet gebucht – als ganz besonderes Kulturevent für die Elite.

Und: Das vom dominierenden Leitmedium abgewertete und ausgegrenzte Leitmedium der vor-vorigen Epoche erfährt neue Wertschätzung. (vgl. M. Giesecke). Tatsächlich: Das Learning-by-Doing, das informelle und implizite Lernen, das im systematischen, formellen und expliziten Lernen der Buchgesellschaft nicht nur abgewertet worden war, sondern sogar im gesellschaftlichen Begriff „Lernen“ noch nicht einmal mehr enthalten war, erfährt unter den Bedingungen der Digitalität neue Wertschätzung. Aber nur darum, weil es neue gesellschaftliche Praxis an allen Ecken und Enden geworden ist. Dass wir es nicht allgemein gesellschaftlich damals diskutiert haben, als jemand wie John Dewey es zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gewünscht hatte, sondern jetzt erst, spricht für Michael Gieseckes These. Den Diskurs heute um das informelle Lernen kann die Gesellschaft gar nicht verweigern, denn es in seiner Bedeutung schon gefährlich nahe an das herangekommen, was wir bisher „Lernen“ genannt hatten, ja es droht dem systematischen Buchlernen gar seine Monopostellung als einzig richtige Lernform zu entreißen. Es hilft nichts: Die radikale Änderung der Systemumwelt, ihr neuer, digitaler Charakter, zwingt all unsere gesellschaftlichen Subsysteme dazu, alle Begriffs- und Bedeutungsapparate auf den Prüfstand zu stellen – sie zu historisieren und zu rekonzeptualisieren unter der Maßgabe der Digitalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Nicht nur der Begriff davon, was „Medium“ ist, sondern auch die Begriffe von „Wissen“ und „Lernen“ sind prominent für unsere Bildungswelt, und darum gerade von uns als Historikern und Pädagogen zu historisieren und zu rekonzeptualisieren. (Das Historisieren bedeutet die Barriere des Normativ Faktischen unseres mühsam geschaffenen Bewusstseins zu überwinden, und das tut weh. Das Rekonzeptualisieren anschließend ist das, was Spaß macht.)

Für den neuen Wissensbegriff fand ich u.a. David Weinberger, für den Lernbegriff Georg Rückriem und Alexej N. Leont’ev, und für den Medienbegriff Michael Giesecke. Das sind einige der Väter meiner dritten Sozialisation unter den Bedingungen der Digitalität.

4. Die Digitalität und die Geschichtsdidaktik

Gewiss kann es sinnvoll keine „digitale Geschichtsdidaktik“ geben. Es kann aber eine Geschichtsdidaktik geben, die der Digitalität unserer Epoche Rechnung trägt. Es wäre dann eine Geschichtsdidaktik, die sich als Einzelwissenschaft wieder neu durch alle Rahmen der Erkenntnis unter den Bedingungen von Digitalität hindurch reflektiert hat. Eine Didaktik, die ihre unhinterfragten Alltags- und ihre Wissenschaftsbegriffe historisiert und rekonzeptualisiert hat. Und da sie als Didaktik sich selbst historisieren muss, muss sie den Preis großer Verluste zahlen, denn die „Didaktik“ ist ja selbst ein Kind der Buchgesellschaft. Als pädagogische Wissenschaft ist sie in der Buchgesellschaft zu Unterrichtswissenschaft reduziert. Jetzt muss sie sich wieder ihren Zwilling – die Mathetik (Comenius) – anverwandeln, den sie geringschätzend abgespalten und an die Psychologie delegiert hat. Aber dann, wenn sie es getan hat, wenn die Geschichtsdidaktik ihren eigenen Gegenstand historisiert hat, dann könnte sie wie ein Phönix aus der Asche. Denn erst auf der Folie eines neuen expliziten Lernbegriffs kann eine zeitgemäße (Geschichts-)Didaktik entstehen. Und bedenkt: Wir sind erst Historiker. Danach sind wir Pädagogen. Und erst danach sind wir Geschichtslehrer.

Ein moderner wissenschaftlicher Medienbegriff, der mehr ist, als die bloße Gleichsetzung mit Unterrichtsmitteln (Geräten oder Einzelmedien) – das beträfe die „Pädagogen“-Stufe – und natürlich auch mehr als bloß die Gleichsetzung von „Medien“ mit historischen Quellen – das beträfe die „Geschichtslehrer“-Stufe – ist das A und O. Zur Verwechslung von Mittel und Medium durch die Schule habe ich in Anlehnung an einen sehr schönen Aufsatz von Georg Rückriem so visualisiert:

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Wer sich die Lektüre des Aufsatzes schenkt, dem sei zur Erklärung folgendes gesagt:

Das Dreieck O-S-Mittel geht auf Vygotskij zurück, der als erster die Vermitteltheit von Lernen (und Tätigkeit überhaupt) erkannte und. (Das ist übrigens nicht mit der Vermittlungstätigkeit des Lehrens identisch!) Das Subjekt kann sich das Objekt der Tätigkeit (hier den Lerngegenstand) überhaupt nur „aneignen“, indem es einen vermittelnden Gegenstand, einen Mittler, ein Mittel benutzt. (Das ist NICHT das didaktisierte Lehrmaterial, – oder doch höchstens als Spezialfall unter den Bedingungen von Unterricht in der Buchgesellschaft!) Dieses Mittel ist vor allem auch nicht identisch mit dem Kommunikationsmedium, das die Gesellschaft/die Kultur konstituiert. Die O-S-M-Triade findet stattdessen auf dem Hintergrund, unter den Bedingungen des Leitmediums statt, sie ist sozusagen von ihm gefärbt.  „Am Inhalt klebt Medienmaterial“ – so hat es Michael Giesecke ausgedrückt. Und darum, und nur darum, müssen erst das Geschichtslernen und danach erst seine Didaktik ganz neu aufgestellt werden, denn auch der Inhalt des Geschichtslernens hat sich mit dem neuen Leitmedium neu zu konstituieren.

Bernsen, König und Spahn haben mit der „digitalen Geschichtsdidaktik“  ein Modell vorgelegt, das dem noch nicht ganz enspricht. Mein Vorschlag wäre, die „4 Elemente“

  • Lernen an digitalen Medien
  • Lernen mit digitalen Medien
  • Lernen über digitale Medien
  • Lernen im digitalen Medium

mit einem weiteren Element zu ergänzen, dem „Lernen unter digitalen Bedingungen“. Das allerdings ist ein Element auf einer anderen Ebene. Es kann nicht additiv in die Liste als 5. Element gestellt werden. Es muss den Rahmen für die 4 anderen bilden:

Lernen20_Hist1Wenn wir uns dann unter diesem Rahmen den Inhalt noch einmal ansehen, dann müssten wir, wollten wir die Geschichtsdidaktik nicht auf das Lernen mit, in, an und über digitale Medien beschränken einerseits, oder die Inhalte in diesem Rahmen übel trivialisieren andererseits, den Inhalt zunächst mal so neu fassen:

Lernen20_Hist2Das mag erst mal frustrierend sein, denn wir haben noch wenig konkret und noch nichts für die Praxis. Aber wir haben – so meine ich – der Digitalität in ihrer kulturkonstituierenden Bedeutung den adäquaten Platz im Verständnis eingeräumt und sind weder einem gerätetechnischen oder auf Mittel und Instrumente reduzierten Medienverständnis aufgesessen, noch haben wir uns die komplexe  soziale Wirklichkeit des Lernens auf zu einfache additive Modelle zurecht reduziert. Auch ein Modell, das vor allem praktische Anleitung werden will, muss sein Verständnis von der Sache mit der praktischen Anleitung zur Handhabung der Sache in Übereinstimmung behalten. Irgendwo las ich neulich, dass meistens mit zwei Theorien gearbeitet wird: einer „Sonntagstheorie“ – die in sich elaboriert und kohärent ist – und einer „schmuddligen Alltagstheorie“, die eklektisch und oft logisch widersprüchlich alles zusammenfegt, was brauchbar scheint fürs Praktische. Dass die beiden Theorien nicht zusammpassen, interessiert dann keinen, ist aber einerseits verantwortlich für die Abwertung des Theoretischen schlechthin, und bindet andererseits immer an die Faktizität der gerade herrschenden Praxis.

Wie der Inhalt in diesem Rahmen auszusehen hat, das könnte, wenn wir uns auf den Platz des Leitmediums als Digitalität einigen können, die Fortsetzung der Tagung in Angriff nehmen. Ich hatte ja schon Eckpunkte zur Orientierung vorgeschlagen, gewonnen aus den Prinzipien des Netzes und der Gesellschaft unter den Bedingungen des Netzes, die nach David Wiley eine Transformation bedeuten

  • vom Analogen zum Digitalen
  • vom Angebundensein zur Mobilität
  • von der Isolation zum Verbundensein
  • vom Allgemeinen zum Persönlichen
  • vom Konsumieren zum Produzieren
  • von Geschlossenheit zu Offenheit

aber doch auch immer das Nichtdigitale enthalten müssen.

Ergänzung am 14. März 2013:
Weil es bei Daniel noch mal eine wichtige Diskussion mit Nachfrage gegeben hat zum Thema Verwechslung von Medium und Mittel durch die Schule qua System,
zeige ich hier folgendes Beispiel, das genau dieses zeigt:

Mittel und MediumEs ist die auf die Spitze getriebene Verteidigung der bestehenden Unterrichtsrealität gegenüber allen Möglichkeiten der Überwindung alter Praxis durch neue. Das neue Leitmedium würde dabei als Katalysator fungieren. Dies aber führt zu solchen Widersprüchen im System Schule (das aus der Buchgesellschaft), dass selbst Medienpädagogen laut darauf bestehen, dieses Medium keinesfalls als solches verstehen zu dürfen, sondern nur als Mittel zu den bisherigen Zwecken. „Sogar, wenn Medienkompetenz das Lernziel ist, steht am Anfang immer die Frage, was soll gelernt werden …“ und „VOLLSTÄNDIG“ muss sich „das Medium den schulischen Zwecken unterordnen“.  Das tun Medien nun leider nicht, bloß weil Lehrer das so wünschen (wieder: Die Welt als Wille und Vorstellung). Sie haben ihre eigenen Gesetzlichkeiten.
Und es wird hier auch sehr deutlich, dass das neue Medium mit seiner katalysatorischen Eigenschaft, neue Kulturbildung anzuregen, die alte Schule infragestellt und darum mindestens ambivalent betrachtet wird – selbst von Medienpädagogen.

12 Gedanken zu „Was ist das *dings* und was bedeutet es für die Geschichtsdidaktik? Anmerkungen zur Tagung Geschichte Lernen digital

  1. Hallo Lisa,

    vielen Dank für deinen ausführlichen Nachklapp. Nach einem langen Tag mit mündlichen Abitur nur ein paar kleinere Anmerkungen und Nachfragen für den Rest muss ich noch mal mit mehr Muße in deinen Beitrag einsteigen.

    Wenn es keine „digitale“ Geschichtsdidaktik geben kann, dann dürfte es auch keine digital humanities geben, oder? Sonst ließe sich das als Arbeitsbereich in Analogie ja durchaus definieren.

    Wenn du noch mal ein bisschen Zeit hast, schau doch nochmal in unseren Beitrag (S. 20/21). Ich weiß nicht, ob wir so weit auseinanderliegen. Das Lernen im Medium meint im Kern „unter den Bedingungen von Digitalität“.

    Für die Unterrichtsplanung scheint mir die getroffene Unterscheidung in „Lernen mit, an, über, in Medien“ übrigens durchaus hilfreich, da so aus Lehrersicht sehr genau die Funktion des Medieneinsatzes bestimmt werden kann.

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    • Lieber Daniel,
      eure Absichten, einen elaborierten modernen medientheoretischen / medienphilosophischen/medienhistorischen Medienbegriff anzulegen anstatt den ollen Mittel=Medium, Gerät=Medium, Einzelmedium (Quelle)=Medium, ist deutlich. Aber der Medienbegriff des kulturkonstituierenden Kommunikations“raums“ ist nicht viel über eine solche Willensbekundung hinausgekommen. Er müsste doch prominent erläutert werden. Dabei reicht es nicht, auf McLuhan zu verweisen. Ihr bleibt einerseits zu vage, andererseits seid ihr dann schnell beim Praktischen. Und das Praktische ist der Unterricht. Alles, was zwischen Medienphilosophie und Unterricht liegt, muss aber geklärt werden! Sonst kann man ja die Ursache für das gesellschaftlich Wandelnde am neuen Leitmedium überhaupt nicht erkennen. Und ihr erkennt es selbst nicht so gut, denn sonst würdet ihr stutzen bei Begriffen wie „Vermittlung“ und „Aneignung“. Denn das sind die Konzepte, mit denen die Buchgesellschaft Lernen erklärt. Einer vermittelt was, die anderen eignen es sich an. Unterricht halt. Auch Lernen und Unterricht ist nicht sehr sauber unterschieden. Aber diese Unterscheidung wird gebraucht! Und: Habt ihr euch Gedanken gemacht, was Medienart vom Begriff der Medienform unterscheidet? Es liegen epistemologische Welten dazwischen.
      Man könnte sagen: Pragmatisch funktioniert was, wenn man die Liste eurer „Umgangsformen“ mit dem digitalen Medium sieht. Aber ihr wollt ja Theorie bilden, und das mit einem wirklich großen Anspruch im Vorwort, vor dem ich zurückzucken würde. Und diese Liste als Haupt-Outcome – so verstehe ich sie – ist gerade theoretisch zumindest schwierig, wenn nicht mehr, weil sie verschiedene Denksystemebenen, die eigentlich als Schichten hinter- oder voreinander (ja nach Perspektive auf den Gegenstand) liegen müssten, in eine Reihe einer einzigen Schicht setzt. Es ist, als behauptet ihr, dreidimensionales Schach zu erklären, benutzt dafür aber das flache Brett.
      (Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich machen konnte, ich bin auch net immer der große Formulierer vom Dienst, sorry.)

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  3. Liebe Lisa,
    ich habe es noch nicht geschafft, mich mit Deinem Text in hinreichender Gründlichkeit auseinanderzusetzen, sorry. Das werde ich bei nächster Gelegenheit aber sehr gerne nachholen. Beim ersten Überfliegen des Textes dachte ich mir, dass er sicher geeignet wäre, mit in das Open Peer Review für die #gld13 aufgenommen zu werden. Dann könnte die Diskussion dazu besser kontextualisiert und etwas prominenter geführt werden, was sagst Du?

    @ Daniel Bernsen: „Wenn es keine “digitale” Geschichtsdidaktik geben kann, dann dürfte es auch keine digital humanities geben, oder? Sonst ließe sich das als Arbeitsbereich in Analogie ja durchaus definieren.“
    Das halte ich für ein schwaches Argument, denn 1.) kann man über die konzeptuelle Stichhaltigkeit des Begriffs „Digital Humanities“ gut streiten Um es vorsichtig zu sagen. Siehe dazu die entsprechende Passage in meinem LISA-Interview. Siehe auch die Argumentation von Claudine Moulin auf der jüngsten RKB-Tagung (müsste im Stream dokumentiert sein).
    2.) Ist es eigentlich egal, wie andere ihre Praxis beschreiben mögen. „Entscheidend ist auffem Platz“ (Adi Preissler) – d.h. hier zählen nur konkrete disziplinäre Argumente und keine allgemeinen Querverweise. Die überwiegend kritischen Argumente habe ich auf der #gld13 ausgeführt, die affirmativen Argumente konnte ich nur als politische beschreiben.

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    • Natürlich ist das eine Verkürzung. „Analogie“ meint übrigens ja nicht die Beschreibung anderer und eine einfache Übernahme, sondern selbstverständlich die eigene Disziplin. Ich dachte, das wäre klar. Wenn sich über „digital humanities“ streiten lässt, dann auch über eine digitale Geschichtsdidaktik. Ansonsten verweise ich auf unseren gemeinsam Beitrag zur Debatte: http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/view/294 der sich in Teilen als Reaktion auf die Äußerungen im Interview lesen lässt. Die Zuspitzung auf eine „digitale Geschichtsdidaktik“ führt zu einer überfälligen fachspezifischen Diskussion, die zur Klärung beitragen kann.

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    • Oje, Marko, wenn mein Text zur Weiterverwendung in wissenschaftlichen Zusammenhängen dienen soll, dann muss ich ihn aber erst noch aus der Entwurfsfassung hocharbeiten, will heißen redigieren und v.a. mit Nach- und Verweisen versehen, und einiges, was nur rasch behauptet und skizziert ist, ausführen. Wenn ihr das als echten Aufsatz bei mir bestellt, mache ichs gerne, sehr gerne. Aber vor Juni geht gar nix. Wäre es möglich, auf das Skizzenhafte zu verweisen und auf All die nötigen wiss. Nachweise und Verweise und Ausführungen zu verzichten? Dann könnt ihr den Text haben, wie er ist. (Ich geh eben nochmal zwecks der Grammatik rüber …)

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  4. Pingback: #dlg13 – GeschichteLernen Digital

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  6. Eine Freude, diesen Beitrag und die anschließende Diskussion zu lesen!

    Meine Empfehlung ist unbedingt, den Beitrag in der vorliegenden Form zum Gegenstand des Peer Reviews zu machen und nicht erst bis Juni zu warten.
    Dann können nämlich beide (!) Seiten früher lernen (und müssen nicht ihre Theorie A und B verfestigen, statt schon auf Theorie AB zuzugehen ;-))

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