too short;didn’t understand – Warum Literacy 2 für Alle gebraucht wird

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Schulentwicklung trotz Lehrermangels?

Kürzlich fragte Jöran in der Facebook-Ankündigung seines Videos zur „Selbstlern-Revolution“, ob es derzeit und in absehbarer Zukunft noch opportun sei, an schulentwickelnder Lehrerbildung zu arbeiten, da „jede Arbeitsstunde […] jetzt gegen Unterrichtsausfall aufgewendet werden [muss], und nachhaltige Maßnahmen zur Personal- und Schulentwicklung […] keine Chance mehr [haben].“

Ja klar, wir haben eklatanten Bildungsnotstand und die Bedingungen, allen Kindern der Republik auch nur die Literacy (d.h. Lesen und Schreiben sowie Denken in Kausalbeziehungen) beizubringen, sind sehr schlecht. Doch nur, wenn wir uns Gedanken darüber machen, was wir tatsächlich als Bildungsergebnis bräuchten – das ist eine konkrete Utopie -, können wir vernünftig mit dem Personal dafür umgehen, das uns noch geblieben ist, denn ohne diese realistischen Vorstellungen einer besseren Bildung, an denen sich die Lehrerbildung orientiert, kommt man auf solche Gedanken wie Söder, der den Lehrer-Arbeitsmarkt auf typisch kapitalistische Weise versteht und zur Lehrkräfte-Abwerbung aus anderen Bundesländern aufruft. Auch sieht man schon, was zu erwarten ist, dass nämlich der Lehrermangel die einzelne Lehrkraft um ihres Überlebens Willen dazu zwingt, „innerlich zu kündigen“, das Engagement auf Sparflamme zu stellen, und nur noch die wichtigsten Tagesaufgaben zu erledigen und sich darüber hinaus am besten um exit-Optionen kümmert.

Und wir müssen nicht nur die Folgen sich weiter verstärkenden Lehrermangels auf die bloß technische Betriebsfähigkeit der Schulen im Blick haben (ganztätig ist futsch, und an fünf Tagen der Woche überhaupt Unterricht wird mancherorts schon aufgegeben). Es geht auch darum, was die nächsten Schülergenerationen im Kopf haben werden: Wie sie denken und handeln werden. Stichworte: Die Suche nach „einfache Lösungen“, „nach einem Führer“, das manichäische Denken in Freund und Feind, Gut und Böse, das, was heute der Hang zum verschwörungsideologischen Weltbild genannt wird – das wird sich unter solchen Bedingungen nicht bearbeiten lassen, wenn die Bildungsanstalten selbst vermutlich wieder zurückkehren zum autoritären Frontalunterricht und Klassenmanagement, um zweifellos steigende Klassenfrequenzen bei zunehmendem Unterrichtsausfall kurzfristig symptomatisch zu beantworten. Ob es dann hilfreich ist, sein Kind zur Rettung in die Waldorfschule zu schicken, die vielerorts immer noch die einzige Alternativschule vor Ort ist, sollte man erst entscheiden, wenn man das dort vermittelte Weltbild kennt.

Die Erarbeitung einer konkreten Utopie davon, welche Art Bildung die Gesellschaft braucht, betrifft also das Überleben der ganzen Gesellschaft.

Warum brauchen wir eine Neudefinition von Bildung heute?

Nicht zufällig haben sich Kybernetik, Systemwissenschaften und Komplexitätsdenken im selben historischen Zeitraum herausgebildet wie Computer und Digitalität. Technologische Entwicklung ist nicht nur Produkt von Gesellschaft, sie wirkt als Bedingung weiterer Entwicklungen auch zurück auf die Gesellschaft und auf deren Weltverständnis. Das hat Konsequenzen für die Bildung – für ihre Ziele und Gegenstände ebenso wie für ihre Methoden. Es geht heute nicht mehr nur um das Verstehen möglichst vieler einzelner Gegenstände („Inhalte“), sondern auch um das Verständnis von ihren Zusammenhängen und deren Dynamik. Auch muss über den Begriff der Inhalte bzw. Gegenstände gesprochen werden.

Bildungsinhalte sind keineswegs nur Gegenstände/Themen der einzelnen Fächer bzw. Fachwissenschaften und deren Methoden. Bildungsinhalte sind auch die Methoden, mit diesen Inhalten – man kann sie die Inhalte 1. Ordnung nennen – umzugehen. Etwas mit ihnen anzufangen, sie in einen Kontext zu stellen und dort zu rekonkretisieren, nachdem man sie abstrakt-theoretisch erfasst hat. Diese Denkmethoden könnte man Inhalte 2. Ordnung nennen. Bildungsinhalte sind auf dieser Ebene leicht erkennbar als nicht etwa feststehende Dinge („Wissensbestände“), sondern als Tätigkeiten der so Gebildeten. Gedankliche Tätigkeiten ebenso wie praktisch handelnde. Aber auch die Inhalte 1. Ordnung sind in Wirklichkeit mit Tätigkeiten verknüpft. Nicht nur, dass die Aneignung der Fähigkeiten für diese Tätigkeiten eine spezielle Tätigkeit selbst ist (Lerntätigkeit), sie sind historisch Ergebnisse von entsprechender Forschungstätigkeit. Und diese wiederum sind vielfach mehr oder weniger leicht als historisch ausgehandelte und als nicht absolut objektive Tatsachen erkennbar (aka Forschungsstand und Diskussion).  Mit der Unterscheidung in Bildungsinhalte bzw. Lerngegenstände 1. und 2. Ordnung erspart man sich den überflüssigen dualistischen Streit zwischen „Wissen vs. Kompetenzen“. Denn damit ist ja schon ein Zusammenhang beider konstatiert. Und klar sollte auch sein, dass das Lernen 2. Ordnung nicht etwa auf das Lernen 1. Ordnung folgt, sondern beides von Beginn des Lernprozesses an irgendwie ineinander verstrickt ist.

Wie sich das Lernen verändert hat

Gleichzeitig hat die Digitalität neben Arbeit und Kommunikation auch das Lernen verändert und tut dies permanent weiter – ob wir diesen widersprüchlichen Prozess planen oder nicht, ob wir die eintretenden Effekte begrüßen oder nicht. Dass es zunehmend schwieriger wird, Schüler:innen (und Lehrer:innen) zum Lesen, Verstehen und Produzieren längerer Texte zu bewegen, ist eine Binsenweisheit aus der pädagogischen Praxis in allen Bildungssektoren. Dass dies damit zu tun hat, dass sich die gesellschaftlichen Kommunikationsapparate und damit die Kommunikations- und Lerngewohnheiten verändert haben, ist ebenso klar. tl;dr – in der Mediensozialisation an den „sozialen Medien“ als Normalverhalten gelernt und jetzt noch der ChatGPT, der uns das Selber-Schreiben (und -Denken) abzunehmen scheint.

Wenn wir diesen Prozess des Sich-Digitalisierens der Gesellschaft im Sinne unserer Vorstellungen und Wünsche beeinflussen und in seiner Form nicht einfach nur hinnehmen wollen, dann müssen wir ein möglichst adäquates Verständnis seiner Bedingungen und Wirkungsweise entwickeln. Bisher wurde – als vermeintlich pragmatisch – meist einfach nur in erwünschte/unerwünschte Effekte („Gewinne und Verluste“) unterschieden und dann versucht, die unerwünschten Wirkungen symptomatisch zu bekämpfen und dabei bestenfalls die positiven Anwendungspotenziale bereits entwickelter Technikformen zu ergründen. Deutlich wird dies aktuell an der verständlichen Aufregung um die Auswirkungen von ChatGPT auf Hausarbeiten und Prüfungen in Schule und Hochschule, in der zunächst danach gefragt wird, ob und wie die Lehrkraft KI-Texte von echten Schüler:innen-Texten unterscheiden und also Täuschungen auf die Schliche kommen kann. Solche Symptombehandlung reicht jedoch immer weniger aus. Stattdessen müssen wir die Technikentwicklung insgesamt (anders) steuern als bisher. Denn selbstverständlich wird sie gesteuert, der Prozess verläuft nicht in einem deterministischen Selbstlauf, den die Technik als Agent der Entwicklung vermeintlich aus sich selbst heraus neutral bestimmt. Nicht nur die anwendungsorientierte Technik, auch die sogenannte Grundlagenforschung beruht auf gesellschaftlichen Entscheidungen. Aufschlussreich ist hierfür z.B. das Statement des BMBF zur KI. Dort heißt es gleich im ersten Abschnitt:

„Ziel der Strategie ist es, den Standort Deutschland in Erforschung, Entwicklung und Anwendung von KI im internationalen Wettbewerb zu stärken“

Es geht also um die Wirtschaft, um die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Bougeoisie in einem Bereich zukünftig enormer Kapitalakkumulations-Möglichkeiten. Milliarden werden dafür jährlich investiert. Auch wenn im nächsten Absatz behauptet wird, es ginge dabei um „verantwortungsvolle und gemeinwohlorientierte Entwicklung und Anwendung von KI-Systemen“, können wir getrost davon ausgehen, dass genau wie im Text, diese Bestimmung im Zweifel erst an zweiter Stelle steht.

Wissenschaftliche und technologische Entwicklung verlaufen komplex und widersprüchlich im Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Und das weder vollkommen zufällig noch vollkommen vorherbestimmt. Dieser Prozess hat einen spezifisch von den am jeweiligen Zeitpunkt aktuellen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängigen Drall, eine Tendenz. Denn es gibt keine neutrale Digitalisierung, wie es überhaupt nichts Neutrales in menschlichen, d.h. lebendigen gesellschaftlichen Angelegenheiten gibt. Spätestens, wenn wir über die Plattformkapitalisten und ihre Herrschaft über unsere Kommunikationskanäle klagen, wird uns das schmerzlich bewusst. Aber allein von Twitter zu Mastodon zu migrieren oder auf die Einhegung des Digital-Monopolkapitals zu hoffen, wird es wohl nicht richten. Ebenso wenig wie das Problem mit dem ChatGPT durch das Aufdecken von Prüfungsbetrug oder das Erfinden von alternativen Prüfungsformaten behoben wird.

Wie immer heißt die Frage: Welche Art von Technik wollen wir? Und bei der Bearbeitung dieser Frage stoßen wir auf die übergeordnete Frage: Welche Art von Gesellschaft wollen wir? Und die nächste Frage lautet dann: Wie kommen wir dahin?

Die übergeordneten Probleme adressieren

Technologische Entwicklung ist Mittel, nicht Zweck. Und nein, unser Hauptproblem ist nicht, dass wir in Deutschland nicht gut im MINT-Bereich sind, aber laut BMBF unbedingt KI-Weltmeister werden sollen. Wenn wir richtig gut sind, schaffen wir es vielleicht, dieses Mittel nicht zur Optimierung der nationalen oder globalen Kapitalakkumulation zu entwickeln, sondern als Mittel dafür, die Probleme zu lösen, die der Mehrheit der Menschen weltweit unter den Nägeln brennen. Ich sehe dafür zwei komplexe Problemfelder:

Erstens die drohende Faschisierung abzuwehren und die weiter zunehmende soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Zweitens, den drohenden Klimakollaps zu verhindern. Dass beide Probleme in einem Zusammenhang stehen, brauche ich sicher nicht zu erläutern. Soviel dürfte jedoch klar sein: Weder das eine noch das andere Problem sind mit Technik zu bewältigen, schon gar nicht mit solcher, die erst noch entwickelt werden müsste. Etwa noch existierenden Klimarettungstechnikfreunden unter den shift-Leser:innen dazu nur ein aktueller Hinweis aus den Klimawissenschaften:

Das Klimaziel, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu begrenzen, ist nach Ansicht von Hamburger Wissenschaftler:innen kaum realistisch. (…) Das fatale Fazit ziehen Wissenschaftler:innen nicht, weil der Stopp der Erderhitzung physikalisch nicht mehr möglich sei. Sie attestieren eher politische und soziale Blockaden als solche technologischer Art.“

Also ist klar, dass wir uns weniger dringend um die MINT-Klugheit als um die politische Klugheit der Menschen kümmern müssen. Das wird auch besonders deutlich, wenn es um das Feld der Bekämpfung zunehmender Tendenzen zu autoritären bzw. faschistischen Entwicklungen geht. Weit verbreitet auch in akademischen liberalen Kreisen ist die simplifizierende Vorstellung, dass die zunehmende Tendenz von zwischen 25-50% der Bevölkerungen weltweit, Verschwörungsideologien anzuhängen und sogar nachweisbar faschistische Führerfiguren wählen zu wollen, auf Hass als Gefühl und fehlende Moral als Haltung zurückzuführen wäre. „Woher kommt nur all der Hass?“ ist eine beliebte Frage der Ratlosigkeit, deren Beantwortung fast ausschließlich zu individual-psychologisierenden Antworten führt.

Nicht nur die Rechtsentwicklung in den Köpfen selbst ist daher Anlass zu großer Sorge. Auch die Naivität und Simplizität der Erklärungen für diese Tatsache in den liberalen Köpfen, die für Bildung der common senses eine nicht unerhebliche kommunikative und sogar strukturbildende Rolle spielen, ist höchst beunruhigend. Denn entsprechend fußen die Programme zur Prävention und Demokratie-Erziehung vorwiegend auf moralischen und Haltungs-Trainings. Aber Moral bzw. eine ethische „wertebezogene“ Haltung allein sind nicht ausreichend. „Dass man keine Menschen anzündet“, weiß jeder, wie Jan Philipp Reemtsma in seinem wichtigen Aufsatz „Wozu Gedenkstätten“ bemerkte. Aber unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen eben war und ist es weiterhin möglich, dieses „moralische Wissen“ bei Massen von Menschen auszuhebeln, sodass aus „ganz normalen Menschen Massenmörder[:innen] werden“, wie Harald Welzer schon vor fast 20 Jahren sehr überzeugend erklärt hat.

Und auf das Wissen um diese bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen kommt es eben genau an. Diese Bedingungen sind einerseits historisch konkret, also immer einzigartig, andererseits folgen sie, wie Welzer nachweist, generellen Gesetzmäßigkeiten, in deren Dynamik es einen point of no return gibt. Es geht also vor allem darum, rechtzeitig das Richtige dagegen zu tun. Das ist übrigens auch eine der wichtigsten Lehren aus dem antifaschistischen deutschen Widerstand.

Auch das Wissen, dass Krieg nicht mit Krieg zu bekämpfen ist, folgt derselben Einsicht in die Genese von Bedingungen komplexer Entwicklungen und der Rechtzeitigkeit des Eingreifens mit den richtigen Mitteln. Auch hier ist die Moral alleine im besten Falle ein schwacher Anker, im schlechten Falle kann sie durch andere Rahmung verzerrt sogar ein Treiber nicht wünschenswerter Entwicklung sein.

Politische Klugheit – und zwar der Massen – ist also gefragt. Politisch im weiteren Sinne, im Sinne dessen, was im Unterschied zur Natur die Kultur betrifft, was die gesellschaftliche Seite des Menschlichen Seins ausmacht – individuell und gesellschaftlich, psychisch und sozietal. Dazu gehört das Verständnis der Komplexität dieses Gegenstands.

Wir müssen etwas neuartiges lernen: Komplexitätsdenken als Bildungsinhalt

Wir müssen größer ausholen und statt (oder zusätzlich zur) Symptombekämpfung tiefer gehen in Analyse und Strategie. Die Volksweisheit „der Teufel steckt im Detail“ wird meist gelesen als die Notwendigkeit noch genauerer Informationen über einen spezifischen Gegenstand.  Aber was genau heißt genau? Noch näher mit der Lupe, dem Mikroskop dem Gegenstand zu Leibe zu rücken? Welches offenbar entscheidende Detail war übersehen worden, wenn etwas vor die Wand gefahren wurde? Und kann man alle Details wissen? Und ist das überhaupt nötig? Wenn das alles nicht, was ist es dann?

Andreas Schleicher hat bereits vor zehn Jahren die allgemeine Bildung von Versatilisten gefordert, d. h. die Menschen mit der Fähigkeit auszustatten, sich sowohl in tiefem Detailwissen als auch in breitem überfachlichen Zusammenhangwissen auszukennen und beides zu verknüpfen, anstatt wie in der Vormoderne hauptsächlich als Generalisten (wie Leonardo) und in der Moderne vornehmlich als Spezialisten zu denken. Gemeint ist m.a.W. die Fähigkeit zum komplexen Denken.

Der Grund dafür ist leicht zu verstehen: Wir leben in einer komplexen Welt-Gesellschaft, die komplexe Probleme produziert. Diese Probleme und die gesellschaftlichen Mechanismen dahinter erfordern ein adäquates Denken, das selbst komplex genug für ein Verständnis dafür ist. Ein solches Denken reduziert sich weder auf scheuklappenartige Hochspezialisierung noch auf einen bloß vagen Gesamtüberblick. Konkretisiert auf die komplexeste Problemlage, die wir derzeit haben, heißt die Aufgabe: Auf welchem Komplexitätsniveau müssen wir (individuell und gesellschaftlich verstanden) denken, um eine (Welt-)Gesellschaft errichten zu können, mit der wir unsere Lebensgrundlagen nicht weiter zerstören? Was an Problem und Aufgabe komplex ist, kann man an vielen Diskursen verfolgen, die schnell in eine solche ratlose Argumentationslinie driften: Warum können wir nicht alle zusammen für eine nachhaltige Lebensweise …? Ja, die Wirtschaft! Aber ohne Wirtschaft geht es doch auch nicht. Und die Wirtschaft muss doch! Und am Ende will der Konsument in Deutschland halt nichts an seinem Leben ändern, so ist der Mensch eben … usw. usf. Man ahnt zwar einen teufelskreisartigen Zusammenhang. Aber merkwürdigerweise trifft die vielleicht sogar aufpoppende Idee, man müsse nun genaueres über diesen Zusammenhang wissen, um ihn zu überwinden, auf weißes undurchsichtiges Gelände in der Wissenslandkarte. Denn weder in der Schule, noch im Studium hat man ein systematisches Wissen vom Zusammenhang gelernt. Denn alles Wissen ist traditionell systematisiert in Fachwissen (entsprechend der Einzelwissenschaften), ja die Schule beruht geradzu auf dieser Kompartmentalisierung mit Lehrplan, Stundenplan, Fachausbildung der Lehrkräfte, Prüfungen etc. Kompartmentalisierung, das Zerschlagen und Zuweisen eines realen komplexen Problems in partiell dafür zuständige Schubladen, wo es dann jeweils einfach kausal bearbeitet wird, durchzieht unser Denken und unsere Schule. Es ist der Inhalt der klassischen Literacy. Es gibt ethische Probleme mit der KI? Ah, wir brauchen Ethik, speziell KI-Ethik. Die soll es richten. Es gibt ein wiederkehrendes Problem mit dem unangepassten Schüler X? Er hat wohl einen an der Waffel und muss zur Psychologin. Wir haben, gesellschaftlich approbiert sozusagen, keine Theorie, keine Vorstellung von systemischen Zusammenhängen. Werden sie geahnt oder vermutet, besteht augenblicklich der Verdacht auf Verschwörungsideologie, denn tatsächlich hat die Mehrheit in der Gesellschaft, der common sense, nur gelernt, dass Gesellschaft aus Menschen besteht, dass Gesellschaft bloß ein anderer Begriff für eine große Menschengruppe wäre. Komplexe Gesellschaftstheorien wie etwa die Luhmannsche Systemtheorie oder der Marxsche dialektische Materialismus, die explizit zwischen Person und Struktur, zwischen Individuum und Gesellschaft unterscheiden können, ohne sie dualistisch einander entgegenzusetzen, kommen in der Schule, wenn überhaupt, nur grob simplifiziert vor. Und dann werden sie verzerrt und ihrer angeblich inhärenten praktischen Folgen wegen kritisiert oder als unwissenschaftliche „Großtheorien“ verunglimpft. So stehen dem Einzelnen wie der Gesellschaft nicht nur keine Erklärungsrahmen für die komplexen Probleme zur Verfügung; der eigentlich vernünftige Wunsch nach einem kohärenten Erklärungsrahmen wird oft auch noch als angeblicher Wunsch nach „einfacher Erklärung“ desavouiert.

Systemisches bzw. Komplexitätsverstehen heißt nicht, einen Zusammenhang zwischen Elementen nur zu konstatieren („alles hat irgendwie mit allem zu tun“). Es kommt darauf an, die Art und Weise, den jeweils konkreten Mechanismus der Zusammenhänge zu verstehen, ihre Bewegungsgesetzmäßigkeiten mit ihren wechselseitigen Voraussetzungen und Konsequenzen zu erkennen. Das heißt vor allem, die Art und Weise des Zusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft brauchbar zu bestimmen. Denn nur dann besteht die Chance, passende Strategien für eine erfolgreiche Entwicklungsplanung zu finden, anstatt sich in einer quasi schicksalhaften Entwicklung bloß nachträglich einzurichten oder bestenfalls auf eine prognostizierte reaktiv vorzubereiten. Aber auch die Grenzen der Planbarkeit und der Einfluss von Zufällen müssen verstanden und adäquate praktische, allen voran politische Konsequenzen daraus gezogen werden können.

Wir Alle brauchen Komplexitätsverständnis

Dieses neuartige Verstehen ist nicht nur im akademischen Betrieb und in anderen Bereichen der Wissensarbeit, sondern auch für den Alltagsverstand nötig, der Grundlage für viele gesellschaftlich wirksame Entscheidungen ist. Wir stehen vor einer notwendigen Wende im Denken aller Menschen, der Menschheit insgesamt, vergleichbar der Wende mit Beginn in der Renaissance, damals beschleunigt durch den Leitmedienwandel infolge des Buchdrucks. Denn das neue Zeitalter beruhte darauf, dass die Masse der Menschen lesen können musste. Diese Notwendigkeit hatte langfristig die Alphabetisierung des Großteils der Menschheit zur Folge – mit „Gewinnen und Verlusten“ zur Epoche davor, analog denen, die für den Leitmedienwandel in die Digitalität gefunden werden.

Wir können für die Wende heute historisch analog zu dieser Literacy eine Literacy 2 als Bildungsziel formulieren. Denn wir müssen, um als Gattung einigermaßen gut zu überleben, in ein neues Zeitalter kommen, in dem die Masse der Menschen komplexe gesellschaftliche Verhältnisse „lesen“ und aus den Ergebnissen dieser „Lektüre“ Verhaltenskonsequenzen ableiten kann. Und genau wie beim historischen Vorläufer handelt es sich dabei um eine Wende, die etwas grundlegend Neues enthält – damals das wissenschaftliche statt des religiösen Denkens –, das durch einen Zusammenhang von neuen Inhalten und neuen Methoden gebildet wird. Dieses Neue allgemein durchzusetzen ist allerdings kein Selbstgänger, genauso wenig wie die allgemeine Alphabetisierung damals deterministisch und alternativlos vorgegeben war und sich alles andere als automatisch vollzogen hat.

Medienverständnis

Die Idee, die Epochen der Menschheitsgeschichte nach Leitmedien zu organisieren, kam erst mit der Entwicklung der digitalen Medien auf. Es ist ein nützliches Kriterium, das ermöglicht, Gesellschaft und Kommunikation in einem engen Bedeutungszusammenhang zu verstehen. Die damit verknüpfte Betonung des (immer schon) medialen Charakters von Kommunikation bzw. Gesellschaft ermöglicht außerdem, das veraltete Verständnis von Technologie als etwas dem Lernen bloß Nachgeordneten zu überwinden. Denn Medien sind der Pädagogik nicht, wie bisher verstanden, äußerlich, sondern ein für sie konstitutiver Bestandteil. Zu konstatieren, dass an jedem Bildungsinhalt „Medienmaterial klebt“ wie Michael Giesecke sagt, heißt zu erkennen, dass Medien bzw. Technologie in Ziele, Gegenstände und Methoden des Lernens hineinverwickelt sind und diese vier Ebenen nicht einfach auseinander abgeleitet werden können.

Die Zieldimension spielt darüber hinaus jetzt nicht mehr nur wie in Klafkis Didaktischer Analyse eine dem Lernprozess vorgelagerte und allein durch Bildungsplan und Lehrkraft bestimmte Rolle. Sie ist stattdessen einerseits eine gesamtgesellschaftlich bezogene Bestimmung und andererseits als bedeutendes Element ins Zentrum des gesamten Lernzusammenhangs und in den Zugriff der Lernenden zu rücken. Denn niemand lernt selbstständig und komplex zu denken, wenn die Lernziele, d. h. die Bedeutungen der Lerngegenstände bis ins Einzelne und sogar deren Ergebnisse bereits vorgegeben sind, weil sie entweder normativ begründet oder vermeintlich objektiv aus dem Lerngegenstand abzuleiten wären.

Was an einer Sache gelernt wird, hängt nicht unwesentlich vom Lernenden ab. Denken ist immer das eigene Denken, sogar beim Nachvollziehen fremder Gedankengänge. Erst recht also, wenn bisher gesellschaftlich noch ungedachte Gedanken entstehen sollen, kann die persönliche Perspektive und Motivlage aus dem Denk- und Denklernprozess nicht mehr „herausgerechnet“ werden. Die Frage der Schüler:innen an den Lerngegenstand, „Was hat er mit mir zu tun?“, d. h. der persönliche Sinn (Aleksej N. Leont’ev, Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit) wird daher in zeitgemäßen Lernprozess-Settings zum Ausgangspunkt v.a. bezüglich der Problemdefinition. Und dies nicht etwa nur aus Gründen der Motivation, sondern auch aus epistemischen Gründen: Denn Multiperspektivität statt vermeintlich absoluter Objektivität hat ihre Grundlage in der expliziten Akzeptanz von Perspektivität überhaupt sowie im Bewusstsein der eigenen Perspektivität und Perspektive.

So sind die (digitalen) Medien nicht neutrale Träger abgelöster Inhalte, die ebenso gut mittels anderer Träger gelernt und gelehrt werden könnten. Auch sind die (digitalen) Medien nicht abgespalten von diesem „Content“ als sogenannte „Kulturtechnologie“ zusätzlich zu den „alten Technologien“ zu beherrschen zu lernen. Digitale Medien sind stattdessen in Lern- und Lehrpraxis untrennbar komplex verknüpft mit etwas substanziell Neuem, das ohne sie gesellschaftlich gar nicht existierte. Dieses Neuartige ist vor allem das Denken auf der Stufe komplexer Logik.

Was ist das Neue, das zu lernen ist? Literacy 2

Ebenso wie Relativitätstheorie und Quantenphysik nicht einfach eine Ergänzung zur Newtonschen Physik darstellen wie ein neues Stockwerk aufs alte Haus, sondern das gesamte Haus durch und durch verwandeln, so ist auch das Neue in der Literacy 2 nichts, was „on top“ auf alles bisher Gelernte draufgesetzt wird. Das Neue verwirft das Alte nicht, sondern krempelt alles Alte um und enthält es dabei zugleich auf neue Weise. (Dies ist bspw. ein dialektischer Begriff von Zusammenhang, in Systemtheorie „übersetzt“ wäre dasselbe gedacht die Emergenz als Einheit der Differenz).

Zweiwertiges – dualistisches – Denken wird aufgehoben in mehrwertigem Denken. Nicht mehr nur zwei Optionen sind jeweils der Fall (entweder A oder B), sondern immer mindestens vier: A, B, sowohl A als auch B, und weder A noch B.

Alles ist kontextabhängig. Was etwas ist, hängt von den jeweils konkret-historischen Umständen ab, in denen es steht. Was verallgemeinerbar ist, wird zu einer neu zu beantwortenden wichtigen Frage. Inwiefern wird zu einer methodischen Schlüsselfrage. Inwiefern ist etwas x und inwiefern ist es gleichzeitig nicht x? Inwiefern ist es konkret-besonders, inwiefern abstraktallgemein? Diese für das Alltagsbewusstsein ungewöhnliche mehrwertige (komplexe) Denkweise hat große gesellschaftliche und zugleich individuelle Bedeutung für alle Bereiche des Daseins und für alle sozialen Gruppen. Die Unterscheidung zwischen Fakten und Fake News und die zwischen Tatsache und Meinung, die wir uns in der Bildung zu vermitteln bisher bemühen, ist für Alle und für Alles alles andere als ausreichend.

Systemisches Verstehen heißt nicht, über das Einzelne hinaus dann auch noch Zusammenhänge zu erkennen. Es heißt nicht, Dinge zuerst essenzialistisch, also als Dinge „an sich“ zu verstehen, um sie danach erst in Abhängigkeitsbeziehungen zu setzen. Es bedeutet stattdessen, sie von vornherein in ihren Beziehungen und deren permanenten Bewegungen zueinander, als Elemente zu einem Ganzen und im zeitlichen und räumlichen Kontext sowie in ihrer Kontingenz, d. h. in der Möglichkeit, auch ganz anders zu sein, zu verstehen. Auch das Denken selbst ist keine Aneinanderreihung isolierter Einzelgedanken, sondern die Bewegung eines ganzen gedanklichen Zusammenhangs.

Dieses Denken klingt kompliziert, und es ist kompliziert – jedenfalls solange es nicht für alle selbstverständliches Allgemeingut, also für alle „normal“ geworden ist. Wenn es das aber geworden sein wird – genau wie damals das einfache Kausaldenken im Zuge der Alphabetisierung –, dann wird es – in je altersgemäßer Form natürlich – auch schon die frühkindliche Sozialisation Aller beeinflussen.

Literacy 2 könnte man mit den berühmten 4 K-Skills – Kritisch Denken, Kommunikation, Kollaboration, Kreativität – und deren Unterordnung unter ein 5. K – Komplexes Denken – fassen. Die Digitalität der Kommunikation als historisch aktueller Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung in all ihren Dimensionen – der instrumentellen, der medialen, der sozialen und kulturellen (zu der die allgemeine Denkweise gehört) – zu verstehen und beherrschen zu lernen, ist dabei nicht nur Voraussetzung, sondern zugleich auch Produkt des Bildungsprozesses. Das bedeutet, alles Lernen geschieht unter der Bedingung und Berücksichtigung der Digitalität – auch dann, wenn im konkreten Fall vielleicht gerade gar keine digitalen Instrumente benutzt werden.

Was aber unabhängig von den jeweils benutzten Medienformen als gesellschaftliche wie individuelle Aufgabe bleibt, ist das eigene Denken, das immer verknüpft ist mit schriftlichem Sprechen. Denn es ist zwar als psychische Tätigkeit mit der Gesellschaft (kommunikativ) verknüpft – gleichzeitig jedoch gebunden an die organische Seite des menschlichen Lebewesens. Weder denkt das Gehirn (wie die biologistisch orientierten Hirnforscher gerne glauben) noch ist es ausschließlich gesellschaftlich bestimmbar und womöglich auszulagern in Künstliche Intelligenz genannte Technologie. Beide Reduktionen sind die jeweilige Kehrseite derselben dualistischen Medaille, die seit Jahrhunderten im Spiel ist. Was wir brauchen ist das adäquate Verständnis des Zusammenhangs von Psychischen und Sozialen Systemen (aka Individuum-Gesellschaft, aka Natur-Kultur), weniger die Fortsetzung jahrhunderte alter Versuche, Lebenstätigkeit in unbelebter Materie nachzuahmen.

Und das sollen Alle lernen? Das wird nie gehen!

Ja, es sollen Alle lernen! Im vorigen Epochenumbruch hat für die Allgemeinheit ein elementares wissenschaftliches Herangehen an Alltags- und Gesellschaftsprobleme, das den Prinzipien der kausalen Logik folgt, den Schicksalsglauben abgelöst. Und jetzt ist historisch analog ein allgemein verbreitetes zumindest elementares Denken nach den Prinzipien komplexer Logik die Voraussetzung zur Bewältigung der komplexen systemischen globalen-lokalen Probleme nötig. Diese betreffen die „großen politischen“ Fragen, die die Menschen lange einer wie auch immer legitimierten intellektuellen Elite überließen. Zunehmend wird für immer mehr Menschen spürbar, dass genau diese Fragen über ihr Leben bestimmen und sie sich darum an deren Klärung beteiligen müssen, ob sie dürfen oder nicht. Beteiligung hat viele Voraussetzungen, zuallererst die zu verstehen, was vor sich geht.

Aber warum soll es nicht gehen können? Dass global (fast) Alle am Ende des 20. Jh. elementar Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, hat im 18. und /19. Jh. niemand auch nur im Traum für möglich gehalten. Aber mit der Durchsetzung der allgemeinbildenden kostenlosen Pflichtschule für Alle – ein historisch neues Bildungsstruktur-Modell – wurde es Realität. Diese Art Schule war die strukturelle Bedingung der Möglichkeit für die Literacy (1) für (tendenziell) Alle.

Formen der Lernprozessgestaltung

Wie bereits angesprochen, ist nicht zuletzt durch die hohen kognitiven Anforderungen, die der schwierige Gegenstand der Literacy 2 stellt, schon deutlich geworden, dass er nicht in der traditionellen Unterrichtsform von systematischem Lehrgang und Training allein zu lernen ist. Wie etwas am besten zu lernen ist, bestimmt vor allem der Lerngegenstand selbst. Einen Marathon laufen zu können, muss anders gelernt werden als die Grundlagen der Algebra oder Kritisch Denken. So genannte „Lerntypen“ gibt es nicht. Aber der Gegenstand selbst setzt kein Lernen in Gang. Der/die Lernende lernt, und dazu braucht er/sie mindestens ein Motiv.

Motive

Zum Lernen eines Gegenstands braucht es ein Motiv, das nach dem Lernen des Gegenstands verlangt. „Will haben“ ist das gegenstandsbezogene Gefühl dazu. Warum der oder die Lernende diesen Gegenstand können bzw. verstehen will, kann viele Gründe haben, auch Gehorsam, d.h. die Vermeidung von Strafe ist ein Motiv. Die Entstehung von Lernmotiven ist immer ein Zusammenhang aus Umweltreizen und innerem Bedürfnis. Die Unterscheidung zwischen „intrinsischen“ und „extrinsischen“ Motiven ist daher nicht überzeugend, da sie auf der Vorstellung beruht, Individuum und Umwelt existierten unabhängig voneinander, was natürlich nicht der Fall ist. Motive sind flüchtig und müssen nicht bewusst sein, um zu wirken. Sie können weder von außen verordnet noch von innen durch Wunsch erzeugt werden. Man kann nicht wünschen, man könnte Klavier spielen wollen. Das Fehlen von Motiven, überhaupt etwas tun bzw. etwas lernen zu wollen, ist allerdings verbreitet, es ist ein großes Problem und kann in Depression und schlimmstenfalls Selbstmord enden.

Motive für das Lernen ein und desselben Gegenstands können für verschiedene Personen verschieden sein. Das Motiv, einen Gegenstand anzueignen, kann sich im Laufe des Lernprozesses ändern. Es gibt starke und schwächere Motive. Ob das Lernmotiv stark genug für einen Gegenstand ist, erweist sich beim Lernen selbst. Motive antworten auf Bedürfnisse. Hier liegt auch die Möglichkeit, das Entstehen von Lernmotiven zu beeinflussen, es zu fördern oder abzuwürgen. Alle kennen z.B. das Bedürfnis nach Anerkennung und sozialer Zugehörigkeit, und wohl jede(r) hat schon einmal das darauf basierende Motiv erlebt und genutzt, etwas zu lernen, mit dem er oder sie für ihn oder sie wichtige Menschen beeindrucken kann, um dieses Bedürfnis zu stillen. Wenn der Mathelehrer dich an die Tafel holt, damit du allen die vorbildlich-elegante Lösung vorstellst, die du gefunden hast, hat sich das Üben mit der großen Schwester zuhause „gelohnt“.

Nicht jedes beliebige Motiv passt allerdings zu jedem Gegenstand, obwohl das oben genannte Motiv, basierend auf einem Grundbedürfnis ein starkes Motiv für Alles sein kann. Aber auch wohl nicht auf Dauer, denn wen schert es als Erwachsenen noch, ob der Mathelehrer aus der 8. Klasse ihm heute noch Anerkennung entgegenbringt? Wird man dann nicht immer wieder den Gegenstand der Lernbemühungen wechseln müssen, je nach Geschmack und Interesse der Personen, die einem im Leben gerade wichtig sind? Mathematikerin wird nur die, die neben oder nach dem Anerkennungs-Motiv noch ein anderes erlebt, das viel stärker wird und sie länger, vielleicht sogar durchs ganze Leben trägt. Leo nennt es ein „sinngebendes Motiv“.

Literacy 2 als Gegenstand braucht ein besonderes Motiv: das Erkenntnismotiv. Das dazugehörige Gefühl ist: „Ich will es genau wissen“. Dabei kann es um „Gott und die Welt“ gehen, um Teilbereiche davon (wie funktionieren Ökosysteme), hochspezialisierte Fragen der Mineralogie, der Quanten-Theorie oder um große Zusammenhänge wie den zwischen Natur und Gesellschaft. Genau heißt dabei nicht immer detailliert, wie wir oben schon gesehen haben. Denn ebenso, wie der Teufel im Detail stecken kann, steckt er im Zusammenhang. Was genau genau ist, hängt vom Kontext des Problems ab. Wir brauchen jetzt viel mehr Menschen, die genau wissen wollen, wie die Zusammenhänge funktionieren.

Problemorientierung

Ohne Problemvorstellung gibt es keine Erkenntnis. Einfach aus Neugier nur gucken und alles so offen und neutral und ohne Bewertung auf sich wirken lassen, ist zwar möglich, aber es wird zur interesselosen und sehr flüchtigen Motivation. In dem Moment, wo etwas anderes unsere Aufmerksamkeit fängt – z.B. ein Rascheln im Gebüsch – richten wir Aufmerksamkeit und Interesse darauf. Und was wir als Problem sehen, ist nicht nur vom Gegenstand abhängig, sondern auch von uns selbst, die wir etwas auf einen Gegenstand bezogen für uns als problematisch empfinden. Problemorientierung im Lernprozess ist eine Bedingung für das Lernen selbstständigen komplexen Denkens.

Das wird wohl so schnell nichts?

Zurück zum Lehrermangel. Ja, die Bedingungen sind gerade sehr schlecht. Ändert aber nichts an den Notwendigkeiten langfristiger Art. In meinen Augen ist das so: Ich kann nicht zurück in die Inkohärenz. D.h. ich kann nur mit Blick auf das, was ich langfristig erreichen will, meine kurzfristigen Ziele (und sei es im schlimmsten Fall das schiere Überleben) verfolgen. Ich kann nicht, jedenfalls nicht über längere Zeit so tun, als wäre schieres Überleben an sich das Ziel bzw. der Sinn. Es ist nur die Bedingung dafür, dass es überhaupt weitergeht. Das Ziel steckt aber im Wohin.

8 Gedanken zu „too short;didn’t understand – Warum Literacy 2 für Alle gebraucht wird

  1. Pingback: Lisa Rosa: Literacy 2 – schaumburg.xyz

  2. Ein großartiger Text, der mir sehr beim Schärfen der Gedanken über das WOHIN geholfen hat. Danke, Lisa!
    Passend zu den von Dir beschriebenen historischen Bedingungen haben wir heute eine andere Voraussetzung für den Veränderungsprozess. Als wir zwecks Literacy (1) die Pflichtschule für Alle etablierten, hatten wir ganz gutes Wissen darüber, wie die dafür notwendige Schule / das notwendige Lernen aussehen kann. Es gab ausreichend „Vor-Bilder“. Heute müssen wir viel darüber lernen, wie wir das Lernen für Literacy 2 gestalten können. UND es gleichzeitig etablieren. A und B.

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    • Genau! Und genau wie damals nicht die Analphabeten die passende Schule dazu enwickelt haben, können es heute auch nur die, die schon etwas von komplexem Denken verstehen oder wenigstens daran interessiert sind, es zu verstehen. Interessanterweise ist aber auch die Entwicklung der Schule keineswegs alternativlos gewesen. Es gab ganz andere und ebenso vielversprechende Alphabetisierungsprogramme, manche waren sogar selbstorganisiert und sehr erfolgreich! Aber unter den Bedingungen des Kap. war Selbstorganisation nicht so der Hit.

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