Gewaltfreie Kommunikation: Wie wir bewirken können, was wir bewirken wollen – vielleicht.

Meine größten Lernzuwächse entstehen unter den Bedingungen von Serendipity und Muße. Ein anderes Mal will ich darüber nachdenken, was diese beiden Aspekte mit Effizienz beim Lernen zu tun haben – heute geht es um eine solche glückliche Zufallsüberraschung selbst, der ich neulich erlaubte, mich zu finden, und der ich mich mit Muße hingab.

Seit ich zum Jahreswechsel begriffen habe, dass ich mein Englisch am besten mit englisch-sprachigen Filmen (ohne Untertitel) verbessern kann, bin ich immer auf der Suche nach spannendem Stoff für die tägliche „Lektion“. (Englisch lernen kann ja so viel Spaß machen!) Neulich traf ich dabei zufällig auf Marshall Rosenberg und seine Non Violent Communication. Erst dachte ich, die läppischen 9 Minuten Video zur Information, was das denn sei, die gebe ich ihm. Erst als ich ihm schon 1 Stunde zugehört hatte, merkte ich, dass noch weitere 8 Stunden im Angebot waren. Denn das Video dauert tatsächlich 9 Stunden bestehend aus 9 aufeinander aufbauenden Vorträgen. Eine Woche lang freute ich mich jeden Abend auf der Fahrt vom Büro nach Hause schon auf die nächste Stunde Vortrag.

Warum finde ich Marshall Rosenbergs Methodologie so gut?

  • weil sie nicht normativ appellativ ist („seid doch bitte anders!“);
  • weil es nicht darum geht, was erlaubt oder verboten ist, sondern darum, was funktioniert;
  • weil sie mit ernst zu nehmender psychologischer Theorie und empirischer Evidenz vereinbar ist;
  • weil sie mit den Erkenntnissen im Einklang steht, die auf der Vorstellung der Autopoiesis lebender Systeme beruhen, also avancierteste Kommunikationstheorie beachten;
  • weil sie meine Lebenserfahrungen mit neuen Erklärungen erhellt.

Meine Familiengeschichte ist gewalthaltig. Ein nicht unerheblicher Teil der Mitglieder ist entweder ermordet worden oder hat sich selbst umgebracht; ein anderer Teil hat an Ermordungen mitgewirkt. Nicht ganz so extrem dramatisch, kann ich mich selbst durchaus sowohl als Opfer als auch als Täter sehen. Ich weiß also, wovon die Rede ist, wenn es um gewalthaltige Kommunikation geht. Ich habe aber auch selbst erlebt, wie vollkommen anders Kommunikationen und deren Folgen sein können – Familienbeziehungen,  Lehrer-Schüler-Beziehungen, Kollegenbeziehungen, Kundenbeziehungen, … also soziale Systeme, deren Form und Struktur auf alle beteiligten Personen eine immense Wirkung hat.

Ich bin überzeugt, dass man niemanden ändern kann, dass jedoch alles, was man in sozialen Beziehungen (Kommunikationen/Systemen) tut, Folgen hat. Es sind nicht immer bis fast nie die Folgen, die man auch beabsichtigt hat, – wenn man Menschen und soziale Systeme so behandelt, als wären sie Trivialmaschinen, die nach einem definierten Input ein definiertes Output erzeugen. Am wenigsten unwahrscheinlich, dass unerwünschte Folgen aufgrund von Kommunikation bzw. Handeln eintreten, besteht wohl, wenn man sich statt auf die sogenannten Inhalte, auf  die Art und Weise der Kommunikation konzentriert. Denn sie bewirkt mehr als alle anderen „Maßnahmen“. Die Folgewirkungen kann man nicht bestimmen. Man kann höchstens wahrscheinlicher machen, dass bestimmte Folgen (nicht) eintreten. Es ist höchst wahrscheinlich, dass gewalthaltige Kommunikation zu neuer Gewalt führt. („Das System schlägt zurück“!) Es ist wahrscheinlich, dass eine andere Kommunikation dies nicht tut und stattdessen Gewalt abbaut. Den Ausgangspunkt für eine andere Kommunikation formuliert Marshall Rosenberg so:

Wenn man versucht, Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was man von ihnen will, dann ist das vielleicht möglich. Aber es ist mit erheblichen Kosten für beide Seiten verbunden.

Der Preis dafür, dass jemand etwas nicht freiwillig tut, kann sehr hoch sein und zu des einen oder anderen Tod führen. Aber schon auf einer weniger dramatischen Stufe zeigen sich die negativen Folgen von Manipulationsversuchen: Wer etwas „dem anderen zuliebe“ tut – nicht, weil er sich dafür frei entschieden hat, sondern weil er sich dazu gezwungen/überredet/gedrängt sieht – der wird wütend, auf den anderen oder auf sich selbst, denn sein Bedürfnis nach Autonomie ist verletzt worden.

Bedürfnisse, die bei sich selbst und beim Anderen zu beachten sind, haben zentrale Bedeutung bei Rosenberg. Er geht davon aus, dass es Grundbedürfnisse gibt, die alle Menschen haben – unabhängig in welcher Form sie sie befriedigt sehen, denn die Form wiederum ist kulturhistorisch abhängig. Die Grundbedürfnisse bilden keine Pyramide – wie Sozialtechnologe Maslow  glaubt, – stattdessen stehen sie nebeneinander.  Dann kann man sich klarmachen, dass es dauernd Situationen gibt, in denen die eigenen (!) Bedürfnisse in Konflikt miteinander geraten. (Wenn ich jetzt die Wünsche meines Freundes nach gemeinsamer Aktivität erfülle, dann habe ich mein Bedürfnis nach Verbundenheit gestillt, aber mein momentanes Bedürfnis nach Ruhe missachtet.) Dann muss man eine Entscheidung treffen oder die divergierenden Bedürfnisse in irgendeiner Form in einem praktischen Kompromiss versorgen. Das ist die Freiheit, die man hat und die man braucht. Dazu muss man nicht „erzogen“ werden, diese Entscheidung trifft auch schon der Säugling – in dem ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeitsraum und weniger bewusst als ein Erwachsener, aber er muss Entscheidungen treffen (z.B. ob er seine Augen weiterhin in Richtung des gezeigten Gegenstands bewegt oder sich überfordert fühlt und wegdreht.)

Grundbedürfnisse aller Menschen sind laut Rosenberg das Bedürfnis nach

  • Verbundenheit
  • Physischem Wohlbefinden
  • Aufrichtigkeit, Authentizität [honesty]
  • Spiel (Freude, Humor)
  • Friede
  • Autonomie
  • Bedeutung, Sinn [meaning]

In einer gewaltfreien Kommunikation muss man gleichermaßen nach den eigenen Bedürfnissen (und ihren Ambivalenzen) fragen wie nach denen des Kommunikations-Partners. Wenn ich keinen Krieg will, muss ich die Bedürfnisse des anderen berücksichtigen, egal, ob ich ihn mag oder nicht, ob ich ihn für einen guten Menschen oder für einen Verbrecher halte. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für alle sozialen Systeme, also Organisationen, Institutionen, Gesellschaften, die miteinander kommunizieren. Hinter der gewaltträchtigen Wut stehen immer unbefriedigte bzw. missachtete Grundbedürfnisse. (Die Grundbedürfnisse von sozialen Systemen sind vermutlich etwas anders zu beschreiben als die von Menschen.)
Diplomatie ist also nicht, dem Anderen Honig ums Maul zu schmieren, ihn zu überreden oder zu verleiten, das zu tun, was ich möchte, anstatt ihm zu drohen. Diplomatie ist das Verhandeln von konfliktuösen Bedürfnissen in Kenntnis und Achtung der Bedürfnisse, der eigenen wie der des Anderen. Auch schon die Erkenntnis der wechselseitigen Abhängigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für gute Diplomatie.

Ob es sich um politische Konflikte, um Familienbeziehungen, um pädagogische oder therapeutische Beziehung/Kommunikation handelt – in jedem Falle kann man sich für dieses oder für jenes Modell als Grundlage des eigenen Kommunikationsverhaltens entscheiden:

Kommunikation

Dieses oder jenes Modell als Grundlage kann man übrigens unabhängig davon wählen, in welchen Zusammenhängen man sich bewegt, . In manchen ist es sicher schwieriger als in anderen. Aber auch in hierarchischen Systemen, wie in Betrieben und Behörden oder in Erziehungsanstalten (Schule) ist weder das eine noch das andere Modell zwingend verordnet. Es gibt immer etwas zu entscheiden, d.h. die eigenen Bedürfnisse in der je konkreten Situation zu priorisieren oder neue Kompromissideen zu kommunizieren und auszuprobieren.

11 Gedanken zu „Gewaltfreie Kommunikation: Wie wir bewirken können, was wir bewirken wollen – vielleicht.

  1. Liebe Lisa,
    herzlichen Dank für deinen erfrischenden Blog-Eintrag. Ich finde die GFK Bewegung grundsätzlich gut, manchmal wird es aber zu Machtspielen auf einem feineren Niveau missbraucht. Vor Kurzem bin ich auf Dominic Barter gestoßen. Er ist stark von Rosenberg inspiriert und hat die GFK weiterentwickelt. Er arbeitet in Brasilien und hat dort in Gefängnissen, mit der Polizei, in Schulen, und mit ganzen Stadtteilen intensiv gearbeitet und beachtliche Ergebnisse erzielt. Konflikt ist Potenzial zur tatkräftigen Entwicklung. Vielleicht ist das auch für dich interessant?! Alles Gute, Silke

    Dominic Barter:
    http://www.restorativecircles.de/Home.html

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  2. Liebe Lisa,
    was für ein gleichermaßen persönlich-authentischer wie inspirierender Blogpost! Danke! Schon der erste Absatz ist „a pure delight“. Rosenberg ist mir nicht zuletzt in der Encouraging-Ausbildung schon mehrfach über den Weg gelaufen. Gewaltfreie Kommunikation und das individualpsychologische Prinzip der Gleichwertigkeit ergänzen einander auf ideale Weise. Bislang habe ich mich allerdings nicht vertieft mit der GFK beschäftigt. Das wird jetzt anders, so überzeugend fand ich deine Erklärungen. Ich freue mich jetzt schon auf den neunmaligen Genuss der Lectures!
    Herzliche Grüße
    Corinna

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  3. Liebe Silke,
    Dein Text wirkt auf mich ungewöhnlich offen und mutig und ich empfinde Dankbarkeit dafür.
    Habe mich schon länger immer wieder mit der sogeannten „gewaltfreien Kommunikation“ nach Rosenberg beschäftigt und lasse mich durch Deinen Beitrag zu den längeren Videos zur Auffrischung und zum Englisch-Lernen gerne einladen.
    Herzlichen Dank
    Michael

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  4. Liebe Silke,

    mit Spannung habe ich deinen Blogpost verfolgt und muss gestehen, dass ich mich mit der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg nie beschäftigt habe. Wohl aber habe ich mich mit der Theorie kommunikativen Handelns von Jürgen Haberms beschäftigt, an die mich der Vergleich zwischen Manipulation und Empathie erinnert (Habermas macht eine Differnez zwischen regulativem und imperativen Sprachgebrauch auf, was letztlich auf das geliche Sinnverständnis hinausläuft). Ein herrschaftsfreier Kommunikationsraum konstituiert sich somit aus den gleichen lebensweltlichen Bedingungen, die auch Rosenberg aufzuführen scheint. So ist zwar die Differenz hinsichtlich einer Theoriegebundenheit einer systemtheoretischen Betrachtungsweise und der Kritischen Theorie auffällig, letztlich frage ich mich jedoch, wo genau die Differenzen und theoretische Gewinnbringung zwischen Habermas und Rosenberg liegen mag? Kannst du mir da weiterhelfen?

    Danke für den Youtube-Link, ich werde die ein oder andere Stunde jetzt wohl auch davor verbringen…;)

    Viele Grüße,

    Marco

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    • Lieber Marco, ich heiße Lisa. Die Verwechslung habe ich oben nicht korrigiert, aber jetzt scheint sie sich fortzusetzen.
      Zu Deiner Frage:
      Ich kann mit Systemtheorie, ihrem Menschen- und ihrem Gesellschaftsverständnis, einfach mehr in meiner Praxis anfangen als mit der Kritischen Theorie. Denn herrschaftsfreier Dialog ist vermutlich unter den herrschenden Bedingungen höchstens anzumahnen aber nicht zu erreichen (kein Richtiges im Falschen). Gewaltfreiheit schon eher. Ich habe Macht gegenüber meinen Schülern. Diese Macht kann ich verschieden nutzen. Wenn ich diejenige bin, die den Dialograhmen mehr bestimmt als mein Dialogpartner – und das bin ich als Lehrer gegenüber dem Schüler, und als Lehrerfortbildnerin gegenüber dem Lehrer, als Mutter gegenüber dem Kind …- dann hilft es, mir darüber klarzuwerden, welche Art von Rahmen ich überhaupt bestimmen kann. Ist es ein Rahmen, der versucht, den anderen zu „steuern“? Oder ist es ein Rahmen, der nach dem Verständnis gebaut ist, dass der Andere gar nicht steuerbar ist, und bei solchen Fremdsteueurungsversuchen sowieso nicht das herauskommt, was ich möchte? Und mit der Unterscheidung zwischen den Teilnehmern der Kommunikation und den Rahmenbedingungen kann ich besser sehen, was überhaupt möglich ist und in meiner Entscheidung liegt. Ich kann nicht entscheiden, was mein Dialogpartner tut, aber ich entscheide, was ich ihm als Kontext – als ein Teil seiner Systemumwelt – anbiete.
      (Das wär jetzt Systemtheoretisch gedacht. Vgl. hierzu auch mein Post: Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt – Systemtheorie für Lehrer
      Ich denke, Habermas will am Ende in der Praxis so nicht viel anderes als Rosenberg. Sie arbeiten nur mit verschiedenen Erklärungskonzepten. Den Theorievergleich zwischen Systemtheorie und Kritischer Theorie haben ja schon viele und aus unterschiedlichen Blickwinkeln gemacht. Das zu tun, ist nicht mein Ding. Aber ich lese gerne darüber, wenn du irgendwo etwas dazu sagst.

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  5. Dieser Text hat mich gefunden! Jetzt suche ich nur noch nach dem „geeigneten Rahmen“, ihn unters Volk zu bringen… Vielen Dank dafür!

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  6. Pingback: Konflikte | Pearltrees

  7. Liebe Frau Rosa,

    Sie übersehen, dass …

    … gerade das von Ihnen gehypte Internet keinesfalls ein Ort „gewaltfreier Kommunikation“ ist. Das sieht man schon an den vielen Trollen und Bösewichten, die anderen die Seiten vollmüllen und sie dabei beleidigen. Im Internet herrscht AUCH ein Anarcho-Faschismus. Den fangen Sie mit Ihrer Kritik am Faschismus der Autoritäten nicht ein.
    Sie selber löschen hier ja auch Beiträge, die Ihnen nicht passen – und zwar auch solche Passagen, die keineswegs polemisch oder beleidigend sind. Als „Hausherrin“ ist das ja Ihr gutes Recht – gewaltfrei ist es aber nun nicht gerade.

    … Ihre Kritik an der Buchkultur de facto eine Ausrottungskritik darstellt und als solche selber etwas Gewalttätiges in sich trägt. Schauen Sie sich den Umgang mit dem Nutzer „nabo“ (o.ä.) an – das ist nicht gerade freundlich, wie man mit ihm umgeht (ich bin das übrigens nicht).
    Eine Gewalttat kann auch verbal erfolgen, z.B. durch das permanente, altkluge, triumphierende, irrationale, unrealistische WEGQUATSCHEN der Buchkultur.

    Im Übrigen sind Sie Beamtin und haben im Laufe der Jahre vielen SchülerInnen den „freien Vormittag“ gestohlen, auch wenn „Musik bei Rosa“ vielleicht das kleinere Übel war. In einer Internet-Demokratie, wie Sie sie sich wohl wünschen, gäbe es keine Schulpflicht im heutigen Sinne, sondern höchstens eine Pflicht, sich hin und wieder bei einer privaten Test-Agentur zu melden. – Das ist ja gerade der Witz: Es gibt keinen Beruf, der SO SEHR auf einer konstruierten Amtsautorität beruht wie der des deutschen Schullehrers.

    Manchmal habe ich den Eindruck, diese ganze postmodern-pseudotolerante GEW-Ideologie diene nur dazu, alles Harte und Bedenkliche am Lehrerberuf auf die KMK, die CDU, W. Scheuerl und „das Gymnasium“ zu projizieren.

    Mein Tipp: Werden Sie Ideologin der Polizeigewerkschaft und geben Sie eine anarchistische Mitgliederzeitung raus. „Die Gandhi-Studie hat gezeigt: Gewaltfrei geht besser. Gern würde das Sonderkommando mit den Bankräubern in einen Dialog treten und vermitteln, dass die Sparkasse doch gerade den Mittelstand unterstützt. Doch die Innenminister setzen auf Gewalt!!! Eine alte deutsche Tradition, die nun endlich… “ usw. usf.

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