In a world of nearly infinite information, we must first address why, facilitate how, and let the what generate naturally from there.
(Michael Wesch, in: From Knowledgeable to Knowledge-able. Learning in New Media Environments, 2009)
Dieses „why“ – also den Sinn – zum wichtigsten Kriterium des Lernens (sowohl von Individuen als auch von sozialen Systemen) zu machen, ist eine der größten Herausforderungen, denen das bestehende Bildungssystem derzeit gegenübersteht und mit der es sich so besonders schwer tut, insbesondere in Deutschland.
Denn hier hält man am konsequentesten fest an der Vorstellung, dass der Sinn eines Lerngegenstands als objektive gesellschaftliche Bedeutung gegeben sei, und dieser Sinn folglich nur klar genug von Lehrplänen und Lehrern vermittelt und von den Lernenden eingesehen und akzeptiert werden müsse.
„Warum müssen wir diesen (anstrengenden, langweiligen, …) Stoff lernen?“ fragen die Schüler. Und das System antwortet: „Weil es gut für euch ist, weil ihr es später – im richtigen Leben – brauchen werdet, weil wir es euch so sagen, weil es im Lehrplan steht …)“. Und dann werden „Leistungsvereinbarungen“, „Lernzielvereinbarungen“ usw. mit den Schülern geschlossen wie ein Vertrag, in dem sich die Lernenden verpflichten, „Verantwortung für ihr Lernen“ zu übernehmen, d.h. für Lernziele, die ihnen verordnet werden zusammen mit ihrer angeblich unstrittigen gesellschaftlichen Bedeutung.
Dieser Vorgang wird für eine Modernisierung und Reformierung des alten Systems gehalten – zunächst bedeutet er jedoch nur, was Freud die Überichbildung nennt, nämlich die Internalisierung der Wünsche des „Vaters“ (der Vater ist in diesem Falle die gesellschaftliche Autorität, vertreten durch Lehrplanziele, vermittelt durch den „Lehrkörper“). Ob die alte Logik der zunehmend misslingenden Fremdsteuerungsversuche beim Lernen damit gebrochen wird, erscheint mir sehr fraglich. Zunächst findet ja nur die Verschiebung der „Verantwortung“ statt. Angenommen wird, dass Schüler nun freiwillig lernen, was sie vordem nicht lernen wollten oder konnten, weil sie sich jetzt zu diesem freiwilligen Lernen verpflichtet haben. Und sie müssen sich dazu verpflichten, sie dürfen Lernvereinbarungen nicht verweigern. Und solange diese verpflichtende Freiwilligkeit an Freiheit nur bedeutet, zu wählen, wie schnell, mit welchen Mitteln und Methoden gelernt wird, was gelernt werden soll, solange bleibt es ein Nötigungsversuch, der gelingen kann oder auch nicht, wie ehedem. Ob gelernt wird, was gelernt werden soll, hängt weiterhin davon ab, ob die Lernenden in diesem formalen Setting trotzdem genügend eigene Sinnbildungsmöglichkeiten erhalten. Denn Lernen ohne einen persönlichen Sinn ist unmöglich.
Der Mensch findet ein bereits fertiges, historisch entstandenes Bedeutungssystem vor und macht es sich
ebenso zu eigen, wie er sich ein Werkzeug, […] zu eigen macht. Die […] wesentliche Tatsache ist die, daß ich mir eine Bedeutung zu eigen mache und auch, inwieweit ich sie mir zu eigen mache und was sie für mich, für meine Persönlichkeit wird. Wovon hängt dies letztere ab? Das hängt davon ab, welchen Sinn diese Bedeutung für mich hat.«
sagt Alexej N. Leont’ev zur Unterscheidung von Sinn und Bedeutung. Und:
Der Sinn wird nicht durch die Bedeutung erzeugt, sondern durch das Leben.
(Beide Zitate in: A. N. Leontjew, Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, Köln 1982, S. 261f)
Dass das Sinnproblem ein zentrales Problem für die Funktionsfähigkeit des Bildungssystem ist, ist heute deutlicher als je zuvor. Wo Schule und Universitäten nicht mehr die einzigen Orte sind, an denen gelernt werden kann, weil nicht mehr nur diese die dazu nötigen Informationen besitzen und verteilen, müssen sie ihre einzigartige Bedeutung neu legitimieren. Sie müssen nachweisen, warum ausgerechnet in diesem System besser gelernt werden kann als frei im Netz oder in privaten Home- und Unschooler-Initiativen oder in Open Universities. Diese Legitimation behalten sie künftig nur, wenn sie die persönliche Sinnbildung der Lernenden nicht mehr wie bisher dem Zufall überlassen, sondern Sinnbildungsmöglichkeiten stattdessen organisieren – und noch viel mehr: Sie müssen die Organisation von Sinnbildungsmöglichkeiten als eine ihrer Hauptaufgaben begreifen.
Ein Schritt in die richtige Richtung hat die einzigartige Hamburger Zeitschrift für Lehrer „Hamburg macht Schule“ mit ihrem neuesten Heft getan. „HmS“ ist seit den frühen 80er Jahren das Produkt einer Kooperationsbeziehung zwischen Schulbehörde, Universtiät und Lehrerfortbildungsinstitut in Hamburg. Neben Behördenmitteilungen war diese Zeitschrift seit ihrer Gründung ein Publikationsort für reformpädagogische Ideen und Praxisberichte. Die jeweils aktuelle Nummer liegt in allen Hamburger Lehrerzimmern herum und wird auch manchmal gelesen. Aber auf Lehrerzimmer-Fensterbänken herumliegendes Lesepensum – zumal, wenn es einen Behördenlook hat – ist vor allem in Zeiten hoher Belastung durch das Alltagsgeschäft der Lehrer, das nur mit ausgeklügelten Routinen zu bewältigen ist, und der dazu verordneten Reformierungstätigkeit, nicht unbedingt verführerisch.
Schade, wenn auch mit diesem Heft in den Kollegien wieder nicht gearbeitet wird.
Denn das neue Heft heißt Lernen und Sinn.

In diesem Heft ist das schon vor Monaten hier in shift veröffentlichte Interview „Sinnbildung lernen“ mit Georg Rückriem und Johannes Werner Erdmann enthalten – als Orientierung zur Frage: Welche Bedeutung hat die Sinnfrage für gelingendes Lernen?
Und außerdem sind eine Reihe sehr anregender Praxisbeispiele über gelungene Sinnbildung im schulischen Lernen enthalten.
Ich als Geschichtslehrerin freue mich insbesondere an Christian Welniaks Bericht über die Arbeit einer Schulklasse mit Zeitzeugen „Erinnern für die eigene Zukunft oder ‚warum haben sich die Juden nicht bei der Polizei beschwert?“ (S. 22) und an dem Bericht einer farbigen Schülerin „Plötzlich ist Geschichte ganz nah…“ (S. 23)
Über Sinnbildungslernen, auch wenn es dort nicht so genannt wird, finden sich aufregende Erkenntnisse in einer Reihe von Büchern aus dem anglo-amerikanischen Raum. Wie gut wäre es, wenn die Bildungsverantwortlichen in Deutschland sich mal mehr damit beschäftigen würden, die Diskussion außerhalb Deutschlands zur Kenntnis zu nehmen. Man könnte eine Menge von anderen lernen, die anderswo leben, wenn man nicht immer meinte, schon alles zu wissen oder zu können, und nicht immer meinte, dass WIR DEUTSCHEN die Bildung mit Humboldt erfunden hätten und uns darum gar nichts von ANDEREN sagen lassen zu müssen wollen hätten brauchen…
Ich empfehle – und wenn es nur für den Genuss ist (gibt es denn überhaupt noch lesende Lehrer just for fun and sense?) zwei Bücher, und es juckt mich in den Fingern, sie auf Deutsch herauszugeben:
Sir Ken Robinson: The Element. How Finding Your Passion Changes Everything und
James Bach: Secrets of a Buccaneer Scholar. How Self-Education and the Pursuit of Passion Can Lead to a Lifetime of Success
Für beide Autoren steht es außer Frage, dass der Lernende nicht nur über Lerntempo und Lernweg selbst bestimmen können muss, sondern auch über die Inhalte, Ziele, Themen und Gegenstände seines Lernens.