Häufig werde ich miss- bzw. nicht verstanden, wenn ich – Giesecke referierend – das Leitmedium (historisch hatten wir schon: das deiktische, das orale, das skriptographische, das typografische und aktuell das digitale) einen Katalysator nenne im Unterschied zu einer deterministischen Charakterzuschreibung. Mir erscheint der katalysatorische Charakter so evident, dass ich mich bisher nicht sehr um die Ausstattung meiner Argumentation mit Beispielen zur Anschauung bemüht hatte.
Aber jetzt hat das zufällige zeitliche Zusammentreffen gehäufter Missverstehens-Erfahrung auf Educamp und pb21 einerseits mit Beat Döbelis Bitte andererseits, ich möge ihm einen Referenztext zu einer bestimmten Information liefern, für mich als Katalysator gewirkt, ein solches Anschauungsmaterial zu finden.
Hier ist es: Die Dänen werden ab 2011 flächendeckend im Abitur das Internet als Hilfsmittel bei der schriftlichen Prüfung zulassen, nachdem sie diese neue Praxis zwei Jahre lang in ausgewählten Fächern an einer Hand voll Schulen erfolgreich erprobt haben.
Wofür fungiert dabei das Internet als Katalysator?
Das elende Problem mit dem Kontrollverlust tritt auf*. Die Lehrer bzw. Prüfer können nicht mehr kontrollieren, ob die Schüler „schummeln“, das heißt, ob sie in ihrem Kopf gespeicherte „auswendige“ Informationen wiedergeben, oder ob sie sie aus dem Internet „gespickt“ haben. Dieses Problem lässt sich nicht lösen mit Sperrungen von Seiten. Es läßt sich nur noch lösen mit einem veränderten Begriff dessen, was als Wissen und „Gelernt“ gelten soll.
Anderes Wissen und auch eine andere Art zu lernen als bisher werden durch die gefundene Lösung prämiert:
„Es wird immer geschummelt werden“, sagt [Pelle Rasmussen]. Um so wichtiger sei es deshalb, die Prüfungen an die neuen Verhältnisse anzupassen. Das Einordnen, Gewichten und Beurteilen von Informationen soll mehr ins Zentrum rücken. „Wir müssen vom bloßen Abfragen von Wissen wegkommen und mehr die analytischen Fähigkeiten der Schüler testen“.
Dies ist ein Wandel in der gesellschaftlichen Vorstellung davon, was künftig Wissen genannt werden soll, denn nirgendwo wird gesellschaftlich der Wissensbegriff stärker definiert als in dem, was geprüft wird. Und es ist nicht zufällig, dass der Wandel gleichzeitig das Wissen prämiert, das für die Lösung der anstehenden (Menschheits-)Probleme zentral ist.
Noch möchte man dabei auch in Dänemark auf der Web 1.0 – Ebene verharren, nämlich nur Recherche zulassen. Trotzdem ist es ein revolutionärer erster Schritt. Aber den zweiten Schritt, nämlich auch das Abfragen von Persönlichen Lern- Netzwerken (PLN), also Web 2.0, zuzulassen und vielleicht sogar zu prämieren, wird kommen. Dann wird es plötzlich prüfungsentscheidend, ob man ein großes Netzwerk hat, in dem man -aktuell per twitter – zur Aufgabenlösung relevantes Wissen abrufen kann. Prämiert – und als Wissen definiert – werden wird dann, wer mehr als nur sein eigenes Gehirn einschalten kann. Und dafür werden die Prüfungsaufgaben viel komplexer werden können, ein „Briefen“ auf abgezirkelte enge Themen und bekannte Lösungswege nicht mehr nötig sein und echte Problemlöse-Kompetenzen geprüft werden können.
Ich hatte in Latein immer eine 5, weil ich es zu langweilig fand, Vokabeln zu lernen. Dann plötzlich im Abitur war 1973 zum ersten Mal in Ba-Wü „der kleine Stowasser“, das Wörterbuch lateinisch-deutsch als Hilfsmittel zugelassen. (Meine Ausgabe war noch in Fraktur gedruckt.) Da erblätterte ich mir emsig eine 1 in der Abiturklausur, denn Grammatik und Syntax konnte ich. Hatte ich mir also meine 1 „erschummelt“? – Nein, es hatten sich, aus welchem Grund auch immer, die Kriterien dessen, was offiziell „Latein Können“ genannt werden sollte, geändert. Bisher waren Fleiß und Auswendiglernen prämiert worden, mit meinem Abiturjahrgang wurde zu meinem Glück das Verständnis der Sprache prämiert.
Letzteres ist eine historische Analogie und hat eher annekdotische Züge. Aber die Sache mit Dänemark halte ich für ein schönes Beispiel, wie das Leitmedium Internet als Katalysator fungiert, die gesamte gesellschaftliche Realität umzukrempeln. Gemeinhin nennt man in den Gesellschaftswissenschaften so etwas (soziale) Revolution. Wer bei diesem Begriff einfach nicht loskommen kann von der Assoziation „Sturm aufs Winterpalais“ (politische Revolution), „schlanke Kommunisten“ oder was auch immer sonst Verabscheuenswürdiges, der kann auch gut mit dem Begriff Transformation auskommen. Nur „Verbesserung“ und „Reform“ passt nicht als Ersatz, denn sie meinen das Gegenteil: Was ich verbessere und reformiere, das erhalte ich in seinem Wesen. Was transformiert wird, wird in seinen wesentlichen Merkmalen überwunden und in ein neues System überführt.
*wegen offenbar wieder missverständlicher Rede, hier nach dem Kommentar von Beat Döbeli ergänzt: wenn das Internet in der Prüfung erst einmal zugelassen ist