Zitate für 2010, Nr. 2

When eras change, systems don’t … at least not until they encounter a disruptive force (in education – the financial climate looks like it may serve this role) that causes individuals to question the value of the assumptions underlying the existing systems.

George Siemens in: http://www.elearnspace.org/blog/2010/01/15/hybrid-education/

eduCamp 2010 in Hamburg #ec10hh

 

Das eduCamp 2010 findet in Hamburg am 5. und 6. Februar statt, ausgerichtet vom Medienzentrum der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg. Schnell waren die Plätze ausgebucht, aber wer Glück hat und keine Chance ungenutzt lassen möchte, kann noch einen Platz über die Warteliste erwischen. Und es macht Sinn, denn erfahrungsgemäß erscheinen ja nie alle angemeldeten Teilnehmer dann auch wirklich.

Außer den für barcamps üblichen Sessions von Teilnehmern wird es eine Podiumsveranstaltung geben, auf der es um Reflexion konzeptioneller Grundlagen geht. Christina Schwalbe wird dieses Podium moderieren und hat die Podiumsgäste vorab um ein Statement gebeten. Diese Idee gefällt mir sehr gut, ermöglicht sie doch viel mehr als in den sonst üblichen Podiumsformaten, dass sich die Teilnehmer vorbereiten können auf das, was ihnen „geboten“ wird, und so viel besser sich auch selbst einbringen können. Zur besseren Partizipation an der Diskussion dient auf jeden Fall auch das Fishbowl-Format.

Ich gebe mein Vorab-Statement hier in zwei Versionen ab – die „Message“ ist dieselbe, jedoch unterscheiden sie sich vom Inhalt her – klar, sind ja auch verschiedene mediale Formen.

Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ulrike Reinhard, die mit mir das Video „entbunden“ hat.

Und hier nun ein ausführlicheres schriftliches Statement:

Das Internet – ein Bildungsraum?

Die Frage ist einerseits schnell beantwortet: „Wo denn sonst soll Bildung im Internetzeitalter stattfinden?“ Etwas weiter ausholen muss ich andererseits, um die kurze Antwort zu begründen.

1. Wenn wir die Bedeutung des Internet auf der Stufe 2.0 für die Bildung und dann die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Bildung unter den Bedingungen des Internet ausloten wollen, dann müssen wir uns zunächst darüber klar sein, welche Bedeutung die Medienentwicklung für die Gesellschaft als Ganzes hat, denn das Bildungssystem ist nur ein Subsystem mit einer bestimmten Funktion für das Gesamtsystem. Wir müssen dabei außerdem klären, was wir unter Medien verstehen. Und wir müssen drittens klären, was wir mit Bildung meinen. Danach können wir nützliche Aussagen darüber treffen, wie Bildung und Web 2.0 zusammenhängen.

2. Bedeutung des Medienwandels für die Gesellschaft:  Anders als für die Medienpädagogen steht es unter den führenden Medientheoretikern, Medienphilosophen und Medienhistorikern heute außer Frage, dass das Internet sich längst als Leitmedium der Informationsverarbeitung und Kommunikation etabliert hat. Und dabei ist natürlich die Stufe 2.0 mit erfasst. Es ist nicht nötig, dass alle, oder die Mehrheit oder auch nur ein großer Teil der Menschen dieses Medium auf dieser Stufe nutzt, um den Leitmediencharakter zu bestätigen. Giesecke führt überzeugend aus, dass noch bis ins letzte Jahrhundert hinein selbst in den industrialisierten Ländern ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnte (zumindest wie wir heute sagen würden, funktionale Analphabeten waren), und das, obwohl das typographische Medium bereits seit Jahrhunderten als Leitmedium etabliert war. Welches Medium Leitmedium der jeweiligen Kultur ist, scheint also nicht davon abzuhängen, ob es alle oder viele nutzen, sondern davon, ob es durch die jeweiligen maßgeblichen Kräfte in der Gesellschaft prämiert wird. Gesetz in der typographischen Gesellschaft ist, was im Bundesgesetzblatt gedruckt veröffentlich ist – selbst wenn es von niemandem gelesen wird außer von den Mitgliedern des Justizsystems.

Historisch analog ist also der Voraussage zuzustimmen: „Wer online unsichtbar ist, hat zukünftig im Beruf pauschal ausgedrückt schlechtere Karten.“ Ich bin überzeugt davon, dass schon heute der gesellschaftlich relevante soziale Verkehr in erster Linie im Internet stattfindet und insofern das Internet insgesamt zum wichtigsten Sozialraum – und damit auch zum Lernraum – geworden ist. Unbestreitbar ist, dass die Medienentwicklung zu grundsätzlichen die gesamte Gesellschaft betreffenden Veränderungen geführt hat. Diese Veränderungen sind irreversibel und völlig unabhängig davon, ob die Menschen sie nun emphatisch begrüßen, skeptisch bis wohlwollend beurteilen oder vehement ablehnen. Sie sind so umfassend, dass wir daran einen Transformationsprozess in eine neue Gesellschaftsformation diagnostizieren müssen, ob wir diese nun Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, Netzgesellschaft, Netzwerkgesellschaft, Sinngesellschaft oder Lernkultur (als Begriff für eine neue Kulturstufe der Menschheit) nennen wollen.

Natürlich ist nicht vorauszusehen, wie diese Gesellschaft im einzelnen aussehen wird, wenn sie ihre Konsolidierungsphase erreicht hat. Einige grundsätzlichen Merkmale sind jedoch auch im Übergangsprozess deutlich identifizierbar, weil sie schon gesellschaftlich bedeutsame Praxis geworden sind. Sie werden seit Jahren und spätestens mit der Stufe Web 2.0 übereinstimmend benannt, beschrieben und vielfältig konzeptualisiert. Alle diese Ansätze, ob sie – um nur einige der bekanntesten deutschen Medienwissenschaftler zu nennen – von Giesecke, Sandbothe, Röttgers, Preyer oder Bolz stammen, versuchen den empirisch belegbaren, irreversiblen, ubiquitären globalen Kulturwandel der Menschheitsgeschichte theoretisch zu konzeptualisieren, der nicht nur die gesamten Verhältnisse umwälzt, sondern auch den Menschen selbst radikal verändert. Seine Kommunikationsformen, die Art und Weise, seinen Lebensvollzug zu gestalten, seine Denkprinzipen – die gesamte Art und Weise also, seine menschliche Natur konkret zu realisieren. Dass sich unumkehrbar ein solcher fundamentaler Wandel vollzieht, hat auch Frank Schirrmacher zumindest erahnt, wenn er sagt:

Die Debatte pro-Internet und contra-Internet ist läppisch. Es geht um die Frage, wie wir im Internetzeitalter überleben können als die, die wir sind.

Der Mensch des Industriezeitalters ist nicht derselbe wie der Mensch des Mittelalters. Wir werden vermutlich als Gattung eben gerade nicht überleben, indem wir bleiben, wer wir sind, sondern indem wir gewissermaßen unsere „Natur“ selbst verändern im sozialen Vollzug unseres Lebens mit dem neuen Leitmedium. Die Angst, die Schirrmacher bei dieser Einsicht überfällt, hat vor allem mit einem Mangel an historischem Bewusstsein zu tun. Denn schon mehrfach hat die Menschheit einen solchen radikalen Kulturwandel infolge eines Medienwandels vollzogen – und jedes Mal sind dieselben Ängste dabei aufgetreten, wie wir aus Quellen seit dem Wandel zur skriptographischen Kultur wissen. Und jedes Mal ist „der Mensch“ dieser Epoche ein anderer geworden und trotzdem Gattung Mensch geblieben. Die Frage lautet also: Wie können wir andere werden und trotzdem wir selbst bleiben? Zugespitzt lautet die Antwort auf Schirrmachers Frage: Wir müssen andere werden, um die zu bleiben, die wir sind.

3.  Als Merkmale der neuen Gesellschaft sind – für unsere Bildungsdiskussion bedeutsam – zu nennen:

  • Wissen, genauer: Lernen, und zwar reflexives, permanentes und lebenslanges Lernen, wird zur Hauptressource unserer globalen Gesellschaft;
  • Die Bedeutung von Netzwerken löst die Bedeutsamkeit hierarchischer Organisationsformen ab;
  • kollaboratives Denken, kooperative Wissensbildung und Simulation als Operationsform der Wissensgenerierung und Problemlösung werden zu den wichtigsten Modi (menschlicher) Tätigkeit;
  •  Lernen wird nicht mehr nur eine individuelle, sondern vor allem eine kollektive Angelegenheit (vernetzter Gehirne);
  • Systeme müssen lernen, sich an neue Funktionen anpassen und transformieren;
  • Maschinen übernehmen bestimmte Aspekte des Lernens;
  • Urteilsfähigkeit, die Fähigkeit zur reflexiven Sinnbildung und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, werden zentrale Kompetenzen.

 4.      Was sind Medien?

Im Zusammenhang mit diesen Diagnosen steht ein Medienbegriff, der sich von dem im pädagogischen Bereich üblichen unterscheidet. Die meisten Pädagogen – und auch ein großer Teil der Medienpädagogen – verstehen unter einem Medium ein Mittel zum Zweck. Medien sind in dieser Lesart Container, die einen Inhalt speichern und transportieren. Das sogenannte „Vermitteln“, geschieht dann dadurch, dass der, dem vermittelt werden soll, den Container öffnet und den Inhalt „zur Kenntnis“ nimmt, den derjenige, der vermitteln will, zuvor eingefüllt hat. Inhalte werden zugestellt wie bei der gelben Post. Zu dem zu transportierenden Inhalt wird die passende Verpackung (= Medium) gesucht. Gerne spezifiziert die Pädagogik außerdem besondere Lernmedien im Unterschied zu den allgemeinen Informations- und Kommunikationsmedien. Letztere sind demnach offenbar nicht ohne Weiteres zum Lernen geeignet. Nur mit einem solchen Medien- und Lernverständnis kann dann gefragt werden: Wie können Web 2.0-Tools wie Twitter oder Blogs als Lernmedien verwendet werden? Und man kommt dann zu solchen Fragestellungen, ob dieser oder jener Stoff (Lerninhalt) besser mit einem Lehrbuch, Heft und Füller gelernt wird oder eventuell auch mit einem Weblog und google gelernt werden könnte. Im letzteren Fall muss dann zusätzlich noch eine Lenkungsmethode erfunden werden, damit auch wirklich der gewünschte Inhalt ins Weblog kommt bzw. aus Google-Ergebnissen herausgefiltert wird, und nicht etwa ein ganz anderer, unerwünschter.

Im Unterschied dazu hat sich in der Medientheorie ein grundsätzlich anderes Medienverständnis entwickelt, in dem Medium nicht als Mittel im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation, sondern als notwendige Form verstanden wird, in der sich ein Inhalt überhaupt erst konstituiert, ohne die es diesen Inhalt mithin gar nicht gibt (Kurt Röttgers). Das Medium hinterlässt sozusagen seine Spuren am Inhalt und umgekehrt. Michael Giesecke sagt dazu, wie ich finde, sehr schön: „Am Wissen klebt Medienmaterial“. Wissen ist m. a. W. nicht medienneutral. Wenn man darauf hinweist, dass Form, Medium und Wissen (oder Inhalt) nicht getrennt voneinander zu haben sind, dann wird einem ja immer sofort zugestimmt. Aber trotzdem wird weiterhin fleißig getrennt. Denn die Konsequenzen daraus werden fast nie akzeptiert. Sie lauten nämlich: Im Internetzeitalter muss im Internet gelernt werden, denn hier wird nicht nur methodisch zeitgemäß gelernt, sondern es werden auch ganz andere Dinge gelernt, und es müssen auch ganz andere Dinge gelernt werden, nämlich diejenigen, die in dieser Epoche gebraucht werden.

5.      Was ist Bildung und was ist Bildung in Zeiten des Internet?

Ich benutze Bildung nicht in seiner deutschen Begriffstradition, sondern als Synonym zum internationalen Begriff Education. Bildung ist dann das Ergebnis von Lernen. Und zwar dem Lernen dessen, was die jeweilige Gesellschaft bzw. Kultur als zu Lernendes vorgibt, um von ihren Mitgliedern sagen zu können: Sie sind gebildet – they are well educated. Die Verfahrensweise zur Reproduktion menschlicher Gesellschaften bzw. Kulturen wird Lernen genannt. Man kann sich dann sowohl der Definition der Ergebnisse zuwenden als auch dem Prozess: Und in der Tat steht beim Umbruch in eine neue Kultur sowohl das Was, das gelernt werden muss, als auch das Wie zur Neudefinition. Es ist also nicht zu fragen, wie man mit dem Internet jetzt die bisherigen Inhalte besser lernen kann, sondern zu fragen ist, was denn in der Umbruchzeit zu einer neuen Kultur Anderes anders gelernt werden muss als bisher. Über beide Fragen wird heftig diskutiert und muss noch intensiv geforscht werden. Aber zwei Punkte scheinen schon jetzt einigermaßen sicher:

Erstens muss geklärt werden, was nicht mehr gelernt werden muss und unsere Curricula nur völlig überflüssig und dysfunktional belastet. (Beispielsweise müssen wir darüber nachdenken, ob es immer noch nötig und für alle sinnvoll ist, eine Schreibschrift, womöglich noch eine schöne Handschrift zu lernen, oder ob es nicht für alle viel sinnvoller wäre, an der Computertastatur mit Druckbuchstaben alphabetisiert zu werden und auch zu lernen, alle zehn Finger zu benutzen.) Und da Urteilsfähigkeit, reflexive Sinnbildungsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit eine immer größere Rolle spielen, ist zweitens natürlich auch zu fragen, ob es überhaupt noch einen für alle gleichen Kanon des Wissens geben kann.

Beispielsweise bringt Howard Rheingold das, was gelernt werden muss, um in der nächsten Zukunft zu bestehen, das heißt letztlich, um die Überlebensprobleme der Menschheit lösen zu können (Klimawandel), auf folgende Punkte, die sozusagen die postmoderne Literacy darstellen und die alten Inhaltkanons der typographischen Kultur ersetzen müssen:

Benötigt wird das verschränkte Zusammenwirken der Fähigkeiten zur

  • Partizipation durch eigene Kreation
  • Kollaboration und kollektiver Aktion
  • kritischer Konsumption und Koproduktion
  • Network awareness (Netzsensibilität?) = sowohl das Fokussieren auf eine Sache als auch das blitzschnelle Switchen zwischen verschiedenen Fokus sowie das Switchen zwischen einem weiten Überblick und dem nahen Fokus auf ein Detail, verbunden mit der Fähigkeit, zu unterscheiden, wann welcher Aufmerksamkeitsmodus sinnvoll ist.

Diese Fähigkeiten werden schon jetzt in den Web 2.0-Medien erworben. Das heißt nicht, dass sie nur dort überhaupt zu erwerben sind, aber diese Fähigkeiten sind vor allem dort gefordert und werden dort zugleich gefördert. Es bedeutet auch nicht, dass diese Fähigkeiten etwa nur dort gebraucht würden oder nur dort anwendbar sind. In den social media gelernte Fähigkeiten werden auch im „Real Life“ gebraucht und angewendet, weil das sogenannte Real Life längst medialisiert ist. So wie in der Moderne der Mensch alle Bildung über Druckerzeugnisse erworben hat, weil die Moderne mit dem Buchdruck medialisiert war, wird die Bildung der postmodernen Gesellschaft im Netz und mit den Bedingungen des Internet und seinen jeweiligen Ausformungen erworben. Das heißt nicht unbedingt, dass die „reale“ Welt hinter der simulierten nur zurücktreten wird. Im Gegenteil: Als Lernort wird die „reale“ Welt eine neue Bedeutung bekommen, denn die mobilen Endgeräte erlauben eine problemlose Verknüpfung zwischen Realworld und Lernort. Erst sie machen die Einbeziehung potenziell aller Orte als Lernorte möglich. Erst jetzt wird ein forschendes Projektlernen in realen Welten außerhalb der Bildungsgebäude als Hauptlernform (und nicht nur als Ausnahme) möglich. „Mit dem iPhone in den Wald“ ist meine Metapher dafür, dass alle Orte virtuell an einen Lernort geholt werden, und umgekehrt alle Orte zu realen Lernorten werden können, indem das kollektive Lernen dorthin getragen wird. Das bedeutet auch, dass die Reduktion der Bildung auf systematisches Lernen und die radikale Abwertung des informellen Lernens, wie sie die Buchgesellschaft mit ihrer Schule vorgenommen hat, aufgehoben wird.

 6.      Zurück zum Anfang und Fazit: Das Bildungssystem muss sich so transformieren, dass nicht nur das System, sondern auch die Bildung selbst (als Ergebnis von Bildungsprozessen) die Prinzipien des Netzes bzw. der Netzgesellschaft enthält. Nach David Wiley bedeutet dies eine Transformation  

  • vom Analogen zum Digitalen
  • vom Angebundensein zur Mobilität
  • von der Isolation zum Verbundensein
  • vom Allgemeinen zum Persönlichen
  •  vom Konsumieren zum Produzieren
  • von Geschlossenheit zu Offenheit 

Bildung in der Wissensgesellschaft außerhalb des „Internet 2.0“ und seiner Prinzipien ist wie Fisch auf dem Trockenen.