Auslese und Bildungserfolg

„Man kann in der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig genug sein“ – so lautete ein Spruch meines Lateinlehrers.

Die Bedeutung des richtigen Geburtstermins am richtigen Ort spielt für den Bildungserfolg und damit für die Potenzialitäten des weiteren Lebens in Deutschland tatsächlich eine herausragende Rolle.
Dass Kompetenzen nicht genetisch fixiert oder angeboren sind, sondern lernend erworben werden, ist eine Binsenweisheit und kann von niemandem ernsthaft infrage gestellt werden. Die Tatsache jedoch, dass auch die Fähigkeiten, bestimmte Gegenstände zu lernen, ebensowenig angeboren oder genetisch fixiert sind, sondern sich ebenfalls erst während des Lernens und durch das Lernen eben dieser Gegenstände entwickeln, scheint noch nicht allseits begriffen worden zu sein.
Diese Begriffsstutzigkeit wird vor allem von denjenigen gepflegt, die unter allen Umständen und entgegen den Zeichen der Zeit immer noch am biologistischen Begabungsmodell festhalten, um das deutsche Gymnasium (Elite gegen Schmuddelkinder) weiterhin einsam gegen den Rest der Welt am agonieröchelnden Leben zu erhalten. Auch in der Hamburger CDU tobt der politische Kampf um die Rettung der Exklusivitätsprivilegien der Herkunftselite.
Auf dem gestrigen CDU-Sonderparteitag stand speziell die Einführung der Primarschule in Hamburg (Verlängerung der gemeinsamen Lernzeit aller Schüler um zwei popelige Jahre) zur Auseinandersetzung. Der Hamburger Regierende Bürgermeister, Ole von Beust, trat dabei dankenswerterweise und hoch wirksam in der guten politischen Tradition des öffentlichen Outings (nach dem Modell „Wir haben abgetrieben„) hervor:

„Er selbst sei ein Beispiel für die Schwächen des alten Schulsystems. Seine Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium sei nicht besonders gut gewesen, aber er habe die Empfehlung doch bekommen, weil es hieß, man könne doch den Sohn des Wandsbeker Bezirksamtsleiters nicht durchfallen lassen“

so sein Bekenntnis laut dem Hamburger Abendblatt.

Ich werte dieses Bekenntnis als Eröffnung einer Liste „Ich bekenne: Meiner Bildungskarriere wurde durch Herkunft nachgeholfen“.

Ich setze mich hiermit an die zweite Stelle dieser Liste in der Hoffnung auf rege Beteiligung an der Fortsetzung.

Ich bekenne, dass ich durch die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium durchgefallen bin. Ich konnte am Ende der 4. Volksschulklasse nicht rechnen, sondern nur zählen. Dass ich trotzdem in die Sexta des Elite-Mädchengymnasiums meiner Heimatstadt aufgenommen wurde, lag an meiner Herkunft: Ich entstamme einer bekannten Akademikerfamilie meiner Heimatstadt. Mein hübscher Aufsatz und meine korrekte Rechtschreibung im Diktat der Aufnahmeprüfung haben laut Aussage der Schulleiterin damals nur im Zusammenhang mit meiner Eigenschaft als Tochter meiner Eltern als Ausgleich für meine Mathematikblödigkeit (heute „Diskalkulie“) gewertet werden können. Dass ich es im Laufe meiner neunjährigen Gymnasialbeschulung schaffte, mich zu einer echten Mathematik-Drei in der schriftlichen Zentralabiturprüfung hochzuarbeiten, geht dann allerdings auf das Konto eigener Bemühungen und – wieder zugegeben – elterlich finanzierter Förderung durch Nachhilfe. Voilà!

Die Bekenntnisliste kann gerne in Kommentaren ergänzt werden.

Bildungsbiografie im selektierenden Schulsystem

Bildungsforschung kann vieles sein, sie muss keineswegs immer in testbasierten Empirismus ausarten bzw. auf solchen reduziert werden. Zum Aufschluss der Kern-Probleme eines Systems und zur Identifizierung der tatsächlich notwendigen und möglichen Veränderungen können auch andere Methoden eine große Bedeutung haben – etwa die wissenschaftliche Beobachtung von Unterricht oder auch bildungsbiografische Studien, beides Methoden, die in Deutschland sehr vernachlässigt wurden. Es gibt bisher nur wenige Studien zur Beobachtung echten Unterrichts und Bildungsbiografien habe ich bislang noch keine gefunden. Aber auch solche Studien können sehr verschieden angelegt sein – entweder als Massen-Untersuchung mit den dann notwendigen Standardisierungen – oder als qualitative Tiefen-Untersuchung weniger einzelner Beispiele.

Bisher war die Bildungsforschung nicht mein Arbeitsterrain gewesen. Aber kürzlich traf ich Manuel H., einen meiner ehemaligen Schüler in der U-Bahn, und auf die Frage, wie es ihm ginge, hielt er mir strahlend sein eben gerade erworbenes Einser-Ingenieurs-Diplom quasi unter die Nase. Tolle Leistung! Natürlich freute ich mich mit ihm und gratulierte herzlich. Das besonders Beeindruckende an dieser Leistung besteht jedoch darin, dass Manuel seine Schulkarriere in der Sonderschule begonnen hatte und dort und in der weiterführenden Haupt- und Realschule trotz hervorragender Leistungen und vorbildlichem Sozial- und Arbeitsverhalten durch seine Lehrer notorisch vom Besuch eines Gymnasiums ferngehalten worden war. Warum das Schulsystem ihm hartnäckig den Aufstieg im System verweigert hatte, und wie er es trotzdem geschafft hatte, aufs Gymnasium zu kommen und nach einem Besten-Abitur ein anspruchsvolles Studium mit einer Elite-Leistung abzuschließen – das wollte ich jetzt unbedingt herausfinden. Manuel erzählte mir alles in einem langen Interview, das wir anlässlich unserer Zufalls-Begegnung vereinbarten, und er gab mir auch die Erlaubnis, seine Schülerakte einzusehen.

Die unglaubliche Bildungsgeschichte, die sich in einem fünfstündigen Gespräch mit Manuel vor meinen Ohren entfaltete, fasste ich in einem gekürzten Interview-Text und meinem Auswertungs-Kommentar zusammen. Aber man erfährt nicht nur etwas über Manuels Geschichte, sondern auch Wichtiges über die Funktionsweise des Schulsystems, und man versteht anschließend, warum es auf ganzer Linie scheitert. Den Text „Vom Sonderschüler zum Diplomingenieur: Eine Hamburger Bildungsbiografie“ hat Manuel autorisiert und zur Veröffentlichung freigegeben. Auf keinen Fall wollte er jedoch seinen wirklichen Namen oder gar sein Bild veröffentlichen lassen. Warum nicht? – Wenn man das Interview gelesen hat, versteht man seine Bedenken sehr gut.

Download: Vom-Sonderschueler-zum-Diplomingenieur-Eine-Hamburger-Bildungsbiografie (pdf, 151 KB)