Transformation des Schulsystems

Wieviel Veränderung ist nötig? – Reicht es, das gegliederte Schulwesen durch Zusammenlegung um ein, zwei „Glieder“ zu mäßigen? Oder hilft nur die radikale Wende zur Einheitsschule/Einer Schule für Alle als Regelschule?

Welche Elemente müssen verändert werden? – Reicht es, die äußere Schulstruktur zu verändern, und alles andere bleibt beim Alten oder ruckelt sich zurecht? – Oder muß ein Masterplan her, der von Reformbeginn an das gesamte System inklusive Lehrerrolle, Lernkultur, Schulkultur transformiert?

Welche Veränderungsstrategie wird zum Erfolg führen? – Eine vorsichtige mehrstufige, die zunächst Haupt- und Realschule zusammenfasst, danach alle nichtgymnasialen Sekundarschulen mit den HR-Schulen zusammenlegt, und – vielleicht! – in einem dritten Schritt diese Regionalschule irgendwann mit dem Gymnasium fusioniert? – Oder eine radikale Ersetzung des gegliederten Systems (inklusive der Sonderschule!) durch die Eine Schule für Alle in einem Schritt?

Im Unterschied zum finnischen Modell der radikalen und mit einem vernünftigen Gesamtkonzept ausgerüsteten Transformation, scheint es hierzulande immer gerade nur so viel Teilveränderung zu geben, wie als unbedingt nötig und nicht mehr vermeidbar empfunden wird.

In Berlin will der SPD-Bildungssenator Zöllner jetzt ein ähnliches Strukturveränderungsmodell einführen, wie in Hamburg die schwarz-grüne Koalition: Das zweigliedrige Schulwesen – eigentlich immer noch dreigliedrig, weil die Sonder- bzw. Förderschule außen vor bleibt.

Im Bildungsinfo von Georg Lind fand ich dazu heute folgenden Kommentar, dem ich uneingeschränkt zustimme:

„Das zweiteilige Schulsystem liegt momentan im Trend, ist aber nicht der Weisheit letzter Schluss! Irgendwann muss die Gesamt- oder Einheitsschule her.
Für die zweiteilige Schule spricht:
Andere Bundesländer (Hamburg) haben das schon getan oder werden es sicher bald tun (müssen), weil den Hauptschulen die Schüler ausgehen.
Alle Kinder bekommen zehn Jahre Schule garantiert und eine reelle Chance, später einmal Abitur zu machen.
Die größeren Einheiten (mindestens vierzügig) und der Ganztagsbetrieb öffnet pädagogisch kompetenten und lernwilligen Lehrerkollegien viele Möglichkeiten, ein attraktives und vielfältiges Lernangebot für Kinder aus diversen Milieus zu basteln
Das Sitzenbleiben ist abgeschafft! Die hohen Kosten fürs Sitzenbleiben werden sinnvoller für pädagogische Fördermaßnahmen eingesetzt und
nicht zuletzt werden die ewig-gestrigen Gymnasialideologen unter den Eltern und Lehrern nicht vergrätzt. Für sie bleibt alles beim alten. (Wenn sie das mal nicht bald bereuen!)
Dennoch bleiben viele Fragen offen und gibt es erhebliche Risiken für diese Politik:
Bestehende Gesamtschulen in Berlin und Hamburg, so scheint es, werden auf kaltem Weg abgeschafft. Sie, die sie immer für eine demokratische Schule für alle Kinder gekämpft haben, müssen sich vermutlich jetzt entscheiden, ob sie Fisch oder Fleisch, Gymnasium oder „Regional“-Schule sein wollen.
Die Entwicklung zur demokratischen Schule für alle könnte mit dieser Zwischenreform auf ewig verschoben werden. Wir wären dann immer noch eines der ganz wenigen zivilisierten Ländern mit einem Apartheid-System im Bildungsbereich.
Was mit den Sonderschulen geschehen soll, wird nicht berichtet. Es besteht die Gefahr, dass sie nach wie vor als Ventil „nach unten“ auf der Bildungsleiter funktionieren werden.
Kein Wort über die notwendigen neuen pädagogischen Konzepte (Umgang mit Heterogenität, individuelle Förderung, Offener Unterricht etc.), die eine solche Reform begleiten müssen, und auch kein Wort über die notwendige inhaltlichen (!) Reformanstrengungen in der Lehrerbildung, ohne die das Ganze scheitern wird. In großen Schulen mit einer heterogenen Schülerschaft, werden pädagogische Inkompetenz und schlechte Lehrerbildung gnadenlos aufgedeckt. Leider werden die Folgen solcher Planlosigkeit wieder nur die Kinder und Lehrer zu spüren bekommen. Medien und Politiker können den Zusammenhang meist nicht wahrnehmen.
GL“

In Hamburg gibt es Anstrengungen, in der Lehrer(fort)bildung die nötigen Veränderungen in Gang zu setzen. Die Haupt-Stichworte heißen hier Individualisierung und Kompetenzorientierung. Was das aber genau in der Praxis bedeutet, d.h. wie die Lehrer individualisiert und kompetenzorientiert ihre Fächer unterrichten können, ist noch ziemlich unklar. Der erste wichtige Schritt wäre also, diese Ungewissheit, wie die Neue Lernkultur denn aussieht, nicht zu vertuschen, sondern offen zu bekennen. Dann hat man nämlich die Chance, zu sehen, wieviel Experiment, wieviel „Werkstattarbeit“ nötig ist, um das Neue Lernen zu entwickeln. Und dann könnte man auch erkennen, daß Experimentieren und „Werkstatt“ bzw. „Labor“ tatsächlich schon wichtige Begriffe eben dieser Neuen Lernkultur selbst sind!

Holocaust und Nationalsozialismus im Unterricht

– „Überlegungen zu einer zeitgemäßen Vermittlung“ war das Thema einer Fachtagung der Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz am 23./24. 4. 07 in Berlin. Etwa 70 Lehrer, Lehrerausbilder und –fortbildner, Vertreter der Bundeszentrale, Mitarbeiter und Repräsentanten von Kultusministerien und Schulbehörden, von Gedenkstätten, Instituten, Stiftungen und Berufsverbänden, sowie Fachdidaktiker für Geschichte und Politische Bildung trafen sich zu Erfahrungsaustausch und Debatte.

Ausgangspunkt der Diskussion um eine neue Didaktik der Erziehung nach Auschwitz waren verschiedene Ereignisse bzw. Befunde:

1. das Aussterben der Zeitzeugen und die Historisierung des Holocaust sowie die daran anknüpfende Forderung des Zentralrats nach Einführung eines Unterrichtsfaches „Holocaust Education“ in den Schulen;
2. empirische Befunde im paradoxen Feld von „Übersättigung“ bzw. „Ahnungslosigkeit“ der Jugendlichen bezüglich des Themas Holocaust;
3. die Frage, was die Beschäftigung mit dem Holocaust für die wachsende Zahl von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bedeutet.

Dietmar von Reeken, Prof. für Geschichtsdidaktik an der Universität Oldenburg, sprach in seinem Vortrag über den Stellenwert des Geschichtsunterrichts in der Auseinandersetzung mit Holocaust und NS. Seine Analyse: Der Gegenstand ist geprägt durch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und hohe mediale Präsenz, die bisher im Unterricht nicht thematisiert wird; wegen des Chronologie-Prinzips im Geschichtsunterricht kommt das Thema erst spät im Unterricht vor, obwohl die Schüler in ihrer außerschulischen Sozialisation schon Jahre früher damit in Berührung kommen; neue Unterrichtsmodelle orientieren sich weitgehend an der gymnasialen Oberstufe, obwohl die meisten Schüler mit Affinität zum Rechtsextremismus aus „bildungsfernen“ Schichten stammen; der traditionelle Unterricht berücksichtigt bisher nicht den völlig anderen Zugang von Schülern mit Migrationshintergrund; die Einstellung zum Gegenstand ist moralisch vorgegeben: „Schüler wissen genau, welche Haltung dazu von ihnen erwartet wird“, was zu einer Anpassung an fertige gesellschaftliche Urteile führt; statt Pluralismus im Geschichtsunterricht, der verschiedene Deutungen zur Debatte stellen müsste, orientiert sich der traditionelle Unterricht zum Thema Holocaust an dem Wunsch, eine solide kognitive Basis und eine Verinnerlichung der gesellschaftlich erwünschten Haltung herzustellen. Fazit: „Vieles davon spricht für eine geringe Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts.“
Von Reekens Forderung an kompetenzorientierten Geschichtsunterricht: Schüler müssen Strategien entwickeln, mit gesellschaftlichen Diskursen und mit den Medien umgehen zu können – und zwar dann, wenn sie aktuell sind, nicht erst, wenn das Thema Holocaust im Rahmenplan „dran“ ist.

Dirk Lange, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg und Vorsitzender des Deutschen Verbands für Politische Bildung (DVPB), formulierte vier Kompetenzen der Politischen Bildung, in denen er die von von Reeken geforderte Diskurskompetenz noch weiter zuspitzte: Mit der vierten, der geschichtspolitischen Kompetenz verstehen die Schüler, daß die Deutung von Geschichte ein interessengeleiteter politischer Prozeß ist. Sie begreifen, wie in der Gesellschaft versucht wird, individuelle Geschichtsdeutung zu allgemein verbindlicher zu erklären. Die Schüler müssen diesen Prozess nicht nur verstehen, sondern ihn auch selbst mitgestalten lernen.

Robert Sigel, Historiker und Mitarbeiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, legte erste Auswertungen seiner Studie an bayerischen Schulen vor, in der sich zeigte, daß Schüler in der Regel ein großes Interesse am Thema Holocaust und NS mitbrachten – schon lange vor der Behandlung im Unterricht – und sich meist zufrieden mit dem Unterricht zum Thema zeigten. Diejenigen, die unzufrieden mit dem Unterricht waren, wollten anschließend keinen weiteren Unterricht in dieser Weise. Die befragten Lehrer waren jedoch weit mehr enttäuscht von den Unterrichtsergebnissen als die Schüler – was daher rührte, daß sie häufig die von ihnen bei den Schülern intendierte Form der Betroffenheit vermißten.
Deutlich wurde hier vielen Tagungsteilnehmern, daß eine Abwehrreaktion von Schülern gegen eine Wiederaufnahme des Themas in einem zweiten Geschichts-Durchgang in der Oberstufe des Gymnasiums daher rührt, daß der erste Unterricht meist nicht am persönlichen Sinn der Schüler angeknüpft und stattdessen die Schülerfragen ignoriert hatte. Das scheinbare Paradox „Übersättigung“ und „Ahnungslosigkeit“ löst sich somit in dem Befund auf, daß eine andere Art von Unterricht erforderlich ist, statt mehr vom selben.

Deutlich wurde in diesen Beiträgen, in der Plenumsdiskussion sowie im Workshop III („Außerschulische Lernorte als Bausteine zur Unterrichtsgestaltung“) zum zweiten, daß eine solche andere Art von Unterricht nur in der Entwicklung einer neuen Lernkultur liegen kann, die in Abkehr vom normativ bevormundenden Unterricht nach instruktivistischer Tradition Modelle projektartigen, subjektorientierten und selbstbestimmten Lernens auch mit außerschulischen Kooperationspartnern entwickelt, erprobt und institutionalisiert. Auf die von einigen Teilnehmern skeptisch erhobene Behauptung hin, solche Art Unterricht sei nur etwas für die gymnasiale Oberstufe und Schüler müßten überhaupt erst eine mit vielem kognitiven Wissen abgestützte „Fragekompetenz“ entwickelt haben, gaben andere Teilnehmer Hinweise auf erfolgreich durchgeführte Projekte mit professionellen Produkten als Ergebnis auch in der Hauptschule.

Der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) stellte seine Thesen und Forderungen zum Geschichtsunterricht über NS und Holocaust vor, die in einer Broschüre veröffentlicht werden, herausgegeben vom Leo Baeck-Institut.
Zentralen Stellenwert hat darin das Konzept der
„Integrierten deutsch-jüdischen Geschichte“ , das in einem aktuellen Heft der bpb-Publikationsreihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ 14-15/2007) von Saul Friedländer vorgestellt wird.

Hingewiesen sei noch auf die interessanten Vorträge von Karl-Peter Fritzsche zur Menschenrechtserziehung und von Robert Sigel zum internationalen Ansatz der Holocaust Education. In beiden Konzepten geht es um die Universalisierung der Lehren aus dem Holocaust, um Werteerziehung und Erziehung zur Demokratie. Vor allem Karl-Peter Fritzsches Vortrag zeigte dabei deutlich, daß die Schule nicht nur einen neuen Unterricht und eine neue Lehrerrolle, sondern ebenso die Entwicklung einer demokratischen Schulkultur benötigt, in der Schüler nicht nur ÜBER den Holocaust als worst case–Folge undemokratischer Gesellschaft kognitives Wissen sammeln, sondern Demokratie durch eigene Partizipation an der Gestaltung ihrer Umwelt – der Schule – erleben können.