Lernen auf individuellen Königswegen

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Jeder tut es, alle sprechen (neuerdings) davon, und jeder weiß, wie es geht. Aber im Unterschied zu gestern, als alle dabei noch an das gleiche dachten, weiß heute jeder anders, wie es geht. Und das ist gut so. Die Rede ist vom Lernen.

Konzepte vom Lernen und dazu passende oder auch unpassende Rezepturen (auch Szenarien) schießen wie Pilze aus dem Boden, neu entwickelt oder wiederentdeckt modernisiert.
Verschiedene gesellschafts-, human- und auch naturwissenschaftliche Domänen reklamieren für sich die Deutungshoheit oder versuchen wenigstens widerspruchsvoll zusammenzuarbeiten bei der Klärung der Frage, wie Lernen denn nun „wirklich“ funktioniert. Offenbar funktioniert es nicht mehr genügend in der  derzeitigen Praxis, denn sonst würde nicht so viel theoretisch und konzeptionell gefragt und erklärt und experimentiert. Weiterlesen

Positionspapier der Schulleitungen der Hamburger Stadtteilschulen zur Integration/Inklusion von Schülern mit Behinderungen

Die Schulleitungen der Hamburger Stadtteilschulen begrüßen die Entwicklung zu mehr schulischer Inklusion ausdrücklich.

Hamburg hat eine mehr als zwanzigjährige Tradition in der schulischen Integration von Schülern mit Behinderungen.

In integrativen Regelklassen an Grundschulen und Integrationsklassen an Grund- und Stadtteilschulen und ihren Vorläufern wird seit vielen Jahren eine erfolgreiche und bundesweit als vorbildlich anerkannte Integration in Hamburger Schulen realisiert. Weiterlesen

Was ist dran an der Zweigliedrigkeit?

Nachdem auch nach dem PISA-Schock 2000 die Schulstruktur als Thema des bildungspolitischen Diskurses noch jahrelang bildungspolitisch tabuisiert und mit der Diffamierung als „ideologischer Grabenkampf“ abgewehrt wurde, ist sie nun doch noch als wichtig für die Rekonstruktion des gescheiterten Bildungssystems von der Bildungspolitik entdeckt worden. Derzeit machen vor allem Konzepte zur Schulstruktur-Reform unter dem Begriff der Zweigliedrigkeit Furore. Sie erscheinen als der avancierte Schlüssel zur Überwindung der Dysfunktion des Systems und zu seiner Modernisierung.

Aber sind sie wirklich der Weisheit letzter Schluss?
Kann die Reduktion der Mehrfachgliederung des Systems auf eine Zweigliedrigkeit die Probleme des deutschen Schulwesens wirklich lösen? Kann das berühmte Deutsche Gymnasium erhalten werden und doch gleichzeitig die negativen Effekte der selektierenden Unterscheidung von Schülern in gymnasial bildbar/nicht gymnasial bildbar vermieden werden? Oder handelt es sich bei dem Konzept der Zweigliedrigkeit um einen neuen Versuch der Quadratur des Kreises, einen neuen Versuch, sich zu waschen ohne nass zu werden? Was ist wirklich dran an dem bisher radikalsten Reform-Modell der Bildungsministerien – in Hamburg und Berlin?

Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium im Ruhrgebiet und 10 Jahre Bildungspolitikerin im Landtag von NRW. Sie hat über die Sonderschule für Lernbehinderte an der TU Berlin promoviert und ist derzeit als freie Bildungsjournalistin tätig.
Über Georg Linds Bildungsinfo erreichte mich Brigitte Schumanns ausgezeichneter Beitrag zu diesem Thema. Ich halte ihn für eine großartige Diskussionsvorlage und erhielt von ihr die Erlaubnis, ihn hier zu (erst-)veröffentlichen und zur Debatte zu stellen.

Brigitte Schumann argumentiert und begründet in ihrem Aufsatz „Pragmatische Scheinlösungen oder ein demokratisches Schulsystem? Wider die Zweigliedrigkeit“ auf der Grundlage empirischer Befunde, warum dieser Reformansatz nicht geeignet ist, die Aussortierung unserer Kinder nach sozialer Herkunft und die damit verbundene Chancenungleichheit im Zugang zur derzeit bestmöglichen Bildung in der Republik zu beenden. Sie erklärt außerdem, warum nicht einmal das deutsche Gymnasium die beste Bildung für ihre eigenen Zöglinge ermöglicht. „Das Gymnasium sichert Bildungsprivilegien“ sagt sie. Es ist in erster Linie diese Funktion, die das Gymnasium bedient – nicht die der bestmöglichen Bildung.

„Es ist wahrhaftig nicht die Pädagogik des Gymnasiums, die seine Beliebtheit bei gymnasialorientierten Eltern ausmacht. Im Gegenteil, ist doch die pädagogische Qualität des Lernens mit der Verkürzung der Lernzeit bis zum Abitur auf 8 Jahre (G8) noch stärker gesunken. Nach einer aktuellen Untersuchung ist fast jeder zweite Schüler am Gymnasium inzwischen auf Nachhilfe angewiesen.“

„Schule in der Demokratie sieht anders aus. Eine Zwei-Klassen-Lösung vertieft im Angesicht der Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise schon vorhandene gesellschaftliche Segregationsprozesse, wie wir sie z.B. auch als Folge einer versäumten Integrationspolitik für Migranten in Deutschland heute wahrnehmen. Eine solche Entscheidung ist grundsätzlich dysfunktional zu dem Anspruch auf Bildung in einer demokratischen Gesellschaft.“

Hier der ganze 5-seitige Artikel „Pragmatische Scheinlösungen oder ein demokratisches Schulsystem? Wider die Zweigliedrigkeit“ von Brigitte Schumann. Es lohnt sich, sich mit ihren Thesen, Argumenten und den von ihr genannten empirischen Befunden auseinanderzusetzen. Es lohnt sich nicht nur, sondern ist m. E. ein Muss, wenn man in dieser Sache auf einer Grundlage mitreden möchte, die über ein bloß subjektivistisches Alltagsverständnis aus der eigenen Praxiserfahrung hinausgeht.

BrigitteSchumann_WiderDieZweigliedrigkeit (pdf, 105 KB)

Gedanken zum "individualisierten Unterrichten"

Traxler

Hans Traxler, Chancengleichheit, in: Michael Klant , [Hrsg.] , Schul-Spott : Karikaturen aus 2500 Jahren Pädagogik ,Fackelträger, Hannover 1983, S. 25

Diesen schönen Cartoon kennen wir alle.
Aber was sagt er uns darüber hinaus, dass Schule ungerecht ist, wenn sie den unterschiedlichsten Individuen das Gleiche abfordert und darauf Noten verteilt?

Als der Cartoon 1983 herauskam, hatte ich gerade mein Referendariat begonnen. Wir waren alle begeistert damals: Ja, so ein wunderbar kritischer Kommentar zum Schulwesen! Ist doch klar: Die Prüfungsaufgabe ist ungerecht und ungerecht darum die Bewertung. Aber sind Menschen denn wirklich so verschieden? Eigentlich glaubten wir doch, dass im Prinzip alle Menschen alles lernen können, auch wenn sie verschieden sind, und dass es keine angeborenen Unmöglichkeiten gibt. War das denn so falsch?

Und dann: Wie konnte angesichts eines für alle gegebenen Baumes eine gerechte Aufgabenstellung denn lauten?

Vielleicht eine Aufgabe, die für alle gleichermaßen zu meistern wäre? Den kleinsten gemeinsamen Nenner? „Geht so nah ihr könnt, an den Baum heran?“ – Dann gäbe es aber für alle nicht viel zu lernen.

Oder etwa jedem eine andere Aufgabe? – Aber wie sollte das gehen, wir mussten doch allen das Gleiche beibringen. Sollten wir vielleicht jedem trotz gleichen Unterrichts im Bäume-Erklimmen die Prüfungsaufgabe auf seinem eigenen Level stellen, damit jeder eine 1 machen konnte? Also zum Ausgleich der ungleichen Start-Chancen an der Bewertung „drehen“? – Manche von uns glaubten damals tatsächlich an eine solche Lösung des Problems.

Jahre später versuchten wir das Problem mit einer anderen Variante zu lösen:
Alle sollten auf den Baum hinauf kommen, aber jeder sollte dafür die Hilfsmaßnahmen und die Unterstützung erhalten, die er dafür benötigte. – Das hieß dann: spezielle Förderung für die Gehandicapten. (Diese gab es dann jedoch in der Praxis niemals ausreichend.)
Und hieße das dann nicht auch – um im Bild zu bleiben –, den Fisch mitsamt seinem Wasserglas auf den Baum hinaufzusetzen? Und vielleicht noch eine Aufgabe zur Teamentwicklung dazu: Der Affe hievt den Fisch hinauf anstelle des Lehrers (und alle zusammen den Elefanten), dann können auch noch social skills-Punkte erworben werden?

Oder läge die Lösung vielleicht darin, dass nicht allen die gleiche Aufgabe zu stellen wäre, sondern jedem eine andere – gemäß seinen in die Schule mitgebrachten Fähigkeiten – die wir noch immer mit den Möglichkeiten verwechselten? – Dem Affen also die Baumkrone, dem Elefanten das Baumausreißen, dem Fisch vielleicht eine Beobachtungsaufgabe – das Kletterprotokoll der anderen. Hm.

Aber klar war und ist bei all diesen Varianten für uns Lehrer dabei immer noch: WIR stellen die Aufgaben. WIR wissen, was es zu lernen gibt, und wir formulieren Standards für das Niveau des Lernerfolgs. Der Fisch wird jetzt genötigt, eine Lernzielvereinbarung für den Erwerb einer Protokollier-Kompetenz zu unterschreiben, und die Schlange – doch, doch, es gibt sie, Traxler hat sie nur vergessen zu zeichnen! – darf jetzt selbst entscheiden, auf welchem Lernwege und in welcher Geschwindigkeit sie sich um welche Äste des Baumes winden möchte, um die Krone zu erreichen.

Vielleicht kommen wir aber doch mal dahin, die uns anvertrauten Geschöpfe nach ihren eigenen Lernwünschen und ihrem eigenen Sinn zu fragen? – Vielleicht so: Welchen Sinn könnte für dich der Baum machen, was könntest du daran lernen wollen, welche Aufgabe möchtest du dir selbst stellen?
Und vielleicht ist ja genau das die Aufgabe für ALLE, nämlich seinen eigenen Sinn finden zu lernen?
Hier beende ich meine Gedanken zum Cartoon, bevor ich mich noch hoffnungslos im Geäst versteige und den Rückweg aus dem Baum meiner Zukunftswünsche für ein selbstbestimmtes lustvolles Lernen in die Schulrealität heute nicht mehr finde.

Bildungsbiografie im selektierenden Schulsystem

Bildungsforschung kann vieles sein, sie muss keineswegs immer in testbasierten Empirismus ausarten bzw. auf solchen reduziert werden. Zum Aufschluss der Kern-Probleme eines Systems und zur Identifizierung der tatsächlich notwendigen und möglichen Veränderungen können auch andere Methoden eine große Bedeutung haben – etwa die wissenschaftliche Beobachtung von Unterricht oder auch bildungsbiografische Studien, beides Methoden, die in Deutschland sehr vernachlässigt wurden. Es gibt bisher nur wenige Studien zur Beobachtung echten Unterrichts und Bildungsbiografien habe ich bislang noch keine gefunden. Aber auch solche Studien können sehr verschieden angelegt sein – entweder als Massen-Untersuchung mit den dann notwendigen Standardisierungen – oder als qualitative Tiefen-Untersuchung weniger einzelner Beispiele.

Bisher war die Bildungsforschung nicht mein Arbeitsterrain gewesen. Aber kürzlich traf ich Manuel H., einen meiner ehemaligen Schüler in der U-Bahn, und auf die Frage, wie es ihm ginge, hielt er mir strahlend sein eben gerade erworbenes Einser-Ingenieurs-Diplom quasi unter die Nase. Tolle Leistung! Natürlich freute ich mich mit ihm und gratulierte herzlich. Das besonders Beeindruckende an dieser Leistung besteht jedoch darin, dass Manuel seine Schulkarriere in der Sonderschule begonnen hatte und dort und in der weiterführenden Haupt- und Realschule trotz hervorragender Leistungen und vorbildlichem Sozial- und Arbeitsverhalten durch seine Lehrer notorisch vom Besuch eines Gymnasiums ferngehalten worden war. Warum das Schulsystem ihm hartnäckig den Aufstieg im System verweigert hatte, und wie er es trotzdem geschafft hatte, aufs Gymnasium zu kommen und nach einem Besten-Abitur ein anspruchsvolles Studium mit einer Elite-Leistung abzuschließen – das wollte ich jetzt unbedingt herausfinden. Manuel erzählte mir alles in einem langen Interview, das wir anlässlich unserer Zufalls-Begegnung vereinbarten, und er gab mir auch die Erlaubnis, seine Schülerakte einzusehen.

Die unglaubliche Bildungsgeschichte, die sich in einem fünfstündigen Gespräch mit Manuel vor meinen Ohren entfaltete, fasste ich in einem gekürzten Interview-Text und meinem Auswertungs-Kommentar zusammen. Aber man erfährt nicht nur etwas über Manuels Geschichte, sondern auch Wichtiges über die Funktionsweise des Schulsystems, und man versteht anschließend, warum es auf ganzer Linie scheitert. Den Text „Vom Sonderschüler zum Diplomingenieur: Eine Hamburger Bildungsbiografie“ hat Manuel autorisiert und zur Veröffentlichung freigegeben. Auf keinen Fall wollte er jedoch seinen wirklichen Namen oder gar sein Bild veröffentlichen lassen. Warum nicht? – Wenn man das Interview gelesen hat, versteht man seine Bedenken sehr gut.

Download: Vom-Sonderschueler-zum-Diplomingenieur-Eine-Hamburger-Bildungsbiografie (pdf, 151 KB)

Transformation des Schulsystems

Wieviel Veränderung ist nötig? – Reicht es, das gegliederte Schulwesen durch Zusammenlegung um ein, zwei „Glieder“ zu mäßigen? Oder hilft nur die radikale Wende zur Einheitsschule/Einer Schule für Alle als Regelschule?

Welche Elemente müssen verändert werden? – Reicht es, die äußere Schulstruktur zu verändern, und alles andere bleibt beim Alten oder ruckelt sich zurecht? – Oder muß ein Masterplan her, der von Reformbeginn an das gesamte System inklusive Lehrerrolle, Lernkultur, Schulkultur transformiert?

Welche Veränderungsstrategie wird zum Erfolg führen? – Eine vorsichtige mehrstufige, die zunächst Haupt- und Realschule zusammenfasst, danach alle nichtgymnasialen Sekundarschulen mit den HR-Schulen zusammenlegt, und – vielleicht! – in einem dritten Schritt diese Regionalschule irgendwann mit dem Gymnasium fusioniert? – Oder eine radikale Ersetzung des gegliederten Systems (inklusive der Sonderschule!) durch die Eine Schule für Alle in einem Schritt?

Im Unterschied zum finnischen Modell der radikalen und mit einem vernünftigen Gesamtkonzept ausgerüsteten Transformation, scheint es hierzulande immer gerade nur so viel Teilveränderung zu geben, wie als unbedingt nötig und nicht mehr vermeidbar empfunden wird.

In Berlin will der SPD-Bildungssenator Zöllner jetzt ein ähnliches Strukturveränderungsmodell einführen, wie in Hamburg die schwarz-grüne Koalition: Das zweigliedrige Schulwesen – eigentlich immer noch dreigliedrig, weil die Sonder- bzw. Förderschule außen vor bleibt.

Im Bildungsinfo von Georg Lind fand ich dazu heute folgenden Kommentar, dem ich uneingeschränkt zustimme:

„Das zweiteilige Schulsystem liegt momentan im Trend, ist aber nicht der Weisheit letzter Schluss! Irgendwann muss die Gesamt- oder Einheitsschule her.
Für die zweiteilige Schule spricht:
Andere Bundesländer (Hamburg) haben das schon getan oder werden es sicher bald tun (müssen), weil den Hauptschulen die Schüler ausgehen.
Alle Kinder bekommen zehn Jahre Schule garantiert und eine reelle Chance, später einmal Abitur zu machen.
Die größeren Einheiten (mindestens vierzügig) und der Ganztagsbetrieb öffnet pädagogisch kompetenten und lernwilligen Lehrerkollegien viele Möglichkeiten, ein attraktives und vielfältiges Lernangebot für Kinder aus diversen Milieus zu basteln
Das Sitzenbleiben ist abgeschafft! Die hohen Kosten fürs Sitzenbleiben werden sinnvoller für pädagogische Fördermaßnahmen eingesetzt und
nicht zuletzt werden die ewig-gestrigen Gymnasialideologen unter den Eltern und Lehrern nicht vergrätzt. Für sie bleibt alles beim alten. (Wenn sie das mal nicht bald bereuen!)
Dennoch bleiben viele Fragen offen und gibt es erhebliche Risiken für diese Politik:
Bestehende Gesamtschulen in Berlin und Hamburg, so scheint es, werden auf kaltem Weg abgeschafft. Sie, die sie immer für eine demokratische Schule für alle Kinder gekämpft haben, müssen sich vermutlich jetzt entscheiden, ob sie Fisch oder Fleisch, Gymnasium oder „Regional“-Schule sein wollen.
Die Entwicklung zur demokratischen Schule für alle könnte mit dieser Zwischenreform auf ewig verschoben werden. Wir wären dann immer noch eines der ganz wenigen zivilisierten Ländern mit einem Apartheid-System im Bildungsbereich.
Was mit den Sonderschulen geschehen soll, wird nicht berichtet. Es besteht die Gefahr, dass sie nach wie vor als Ventil „nach unten“ auf der Bildungsleiter funktionieren werden.
Kein Wort über die notwendigen neuen pädagogischen Konzepte (Umgang mit Heterogenität, individuelle Förderung, Offener Unterricht etc.), die eine solche Reform begleiten müssen, und auch kein Wort über die notwendige inhaltlichen (!) Reformanstrengungen in der Lehrerbildung, ohne die das Ganze scheitern wird. In großen Schulen mit einer heterogenen Schülerschaft, werden pädagogische Inkompetenz und schlechte Lehrerbildung gnadenlos aufgedeckt. Leider werden die Folgen solcher Planlosigkeit wieder nur die Kinder und Lehrer zu spüren bekommen. Medien und Politiker können den Zusammenhang meist nicht wahrnehmen.
GL“

In Hamburg gibt es Anstrengungen, in der Lehrer(fort)bildung die nötigen Veränderungen in Gang zu setzen. Die Haupt-Stichworte heißen hier Individualisierung und Kompetenzorientierung. Was das aber genau in der Praxis bedeutet, d.h. wie die Lehrer individualisiert und kompetenzorientiert ihre Fächer unterrichten können, ist noch ziemlich unklar. Der erste wichtige Schritt wäre also, diese Ungewissheit, wie die Neue Lernkultur denn aussieht, nicht zu vertuschen, sondern offen zu bekennen. Dann hat man nämlich die Chance, zu sehen, wieviel Experiment, wieviel „Werkstattarbeit“ nötig ist, um das Neue Lernen zu entwickeln. Und dann könnte man auch erkennen, daß Experimentieren und „Werkstatt“ bzw. „Labor“ tatsächlich schon wichtige Begriffe eben dieser Neuen Lernkultur selbst sind!

Das Dilemma der deutschen Lehrer

Marianne Demmer hat in einen bemerkenswerten Aufsatz die Widersprüche des deutschen Schulsystems beschrieben, die die Verwirklichung des Rechts auf Bildung verhindern und Lehrerinnen und Lehrer vor ein für sie individuell unlösbares Dilemma stellen, unter dem vor allem engagierte Lehrer und Lehrerinnen leiden. „Verwirklichung des Rechts auf Bildung: Die schwierige Rolle der Pädagogen und Pädagoginnen“, in: Overwien, Bernd und Hannelore Prengel (Hgg.): Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen und Farmington Hills 2007, S. 157-179
In ihrer Analyse wird ausführlich erläutert, was der UN-Sonderberichterstatter Munoz in seinem Bericht zusammenfassend so erklärt: „Wir haben wahrgenommen, dass die Erwartungen an die Lehrkräfte in vielen Fällen ihre realen Gestaltungsmöglichkeiten übersteigen.“

Demmer führt dazu aus:

„Diese Feststellung des UN-Sonderberichterstatters Munoz bezeichnet das Dilemma eines Bildungssystems, das auf einer widersprüchlichen Bildungsphilosophie beruht und frühe Selektion und individuelle Förderung zu verbinden trachtet.“
„Lehrerinnen und Lehrer müssen ihren Beruf in einem Schulsystem ausüben, das es ihnen nahezu unmöglich macht, sich ausschließlich und bedingungslos am Wohl des Kindes zu orientieren. Sie sind vielmehr ständig gezwungen, ihr pädagogisches Handeln mit den Anforderungen eines Systems in Übereinstimmung zu bringen, das nicht auf Inklusion sondern auf ‚Aufteilung als Bildungsstrategie‘ ausgerichtet ist. Wo Homogenisierung durch Klassenwiederholung und Aufteilung in verschiedene Schulformen bereits als ‚begabungsgerechtes Förder-Instrumentarium‘ deklariert wird, fehlen dementsprechend Unterstützungssysteme für die individuelle Förderung ohne Aussonderung.“

Die Bildungspolitik setzt statt Analyse des Gesamtsystems und Identifizierung der komplexen Problemlage auf monokausale Erklärung des Problems: Die Lehrer sollen individuell kompensierend in Ordnung bringen, was systembedingt nicht gelingen kann:

„Die verantwortlichen Politiker nehmen mehrheitlich nicht zur Kenntnis, dass das deutsche Bildungssystem der umfassenden Verwirklichung des Rechts auf Bildung aus strukturellen Gründen entgegensteht. Sie versuchen den Eindruck zu erwecken, in Deutschland werde das Recht auf Bildung durch ein ‚begabungsgerechtes Schulsystem‘ umfassend gewährt. Sie sind mehrheitlich zu einer ehrlichen Analyse der Gründe und Ursachen für Ungerechtigkeit, Benachteiligung und Diskriminierung im und durch das Bildungssystem nicht bereit. Sie versuchen vielmehr, das traditionelle Bildungswesen trotz sich mehrender gegenläufiger empirischer Befunde als reformierbar und in Übereinstimmung mit dem Recht auf Bildung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention darzustellen. folgerichtig werden Mängel, die das System erzeugt, dem pädagogischen Personal angelastet. Entsprechend wird dann auch von den Pädagoginnen und Pädagogen die Beseitigung der Mängel verlangt und erwartet.“

Konsequenterweise fordert Marianne Demmer, endlich in Deutschland die Geisterfahrt des selektierenden Schulwesens aufzugeben und – wie es in (fast) allen Ländern schon längst geschehen ist – auf ein mindestens neunjähriges gemeinsames Lernen für Alle umzustellen, ob die Institution, in der dies geschieht, nun Einheitsschule, Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule, Eine Schule für Alle, oder einfach Schule geheißen wird.

Der ganze Aufsatz: Demmer-2007_kinderrecht-auf-Bildung_Munoz_Bericht (pdf, 798 KB)

Ich höre schon die altbekannten Einwände:
1. Die äußere Schulstruktur zu ändern, verbessert die Lernergebnisse nicht. 2. Es gäbe auch erfolgreiche Bildungssysteme mit selektierender Struktur.
Der zweite Einwand ist schnell beantwortet: Alle hoch erfolgreichen Schulsysteme sind Gemeinschaftsschulsysteme. (Nachzusehen bei PISA-verstehen_Motivation_Kontext_Interpretation-der-Ergebnisse- (ppt, 2,635 KB)).
Zum ersten Einwand: Ja. Ein einziges Element in einem dysfunktionalen System zu verändern, verbessert nicht nur nicht automatisch das System, sondern vermutlich gar nicht. Nun ist die äußere Differenzierung nicht bloß ein Element, sondern der Rahmen des ganzen Systems, der seinerseits eine lange Reihe weiterer Elemente determiniert. Und selbstverständlich ist die Veränderung dieses strukturellen Rahmens nur die Voraussetzung dafür, dass das ganze System nachhaltig umgestaltet werden kann. Eine Reduktion der Klassenfrequenz alleine verbessert ja auch nicht automatisch den Unterricht. Aber auch hier wäre die Folgerung, die Anzahl der Schüler in der Klasse bzw. die Anzahl der Schüler eines Lehrers spiele dann also keine Rolle, ein fundamentaler Denkfehler. Immer wieder stößt man auf das hartnäckig sich äußernde Bedürfnis, komplexe Probleme monokausal zu erklären und zu lösen. Es sind jedoch komplexe Systeme, die radikal umgestaltet werden müssen, und dies geht nur mit einem Masterplan, der mit einem Bündel von aufeinander bezogenen Veränderungen auf eine systemische, polykausale Ursachendefinition von Problemen reagiert.
Als wichtigstes wäre neben einer radikalen Strukturreform dafür die Lehrerbildung zu nennen: Solange auch in der Lehrerausbildung im Wesentlichen doch noch immer die Vorstellung der Trichterpädagogik vorherrscht, ist die notwendige Neue Lernkultur nicht zu haben. Ein Kernstück der Lehrerausbildung müßte pädagogische Psychologie sein, die bisher – wenn überhaupt – nur am Rande vorkommt. In einer professionellen pädagogischen Ausbildung wäre von den angehenden Lehrern ausführlich zu lernen, wie der Mensch überhaupt lernt. Stattdessen wird meist nur gelernt, wie man heutzutage unterrichtet. Das eine hat mit dem anderen wenig zu tun.
Ebenso wichtig ist die Erkenntnis: Einen Tanker bei voller Fahrt zu wenden, ist äußerst schwierig. Um eine umfassende Neukonstruktion des Bildungswesens zu ermöglichen, sind darum hohe Investitionen aufzubringen, in erster Linie eine radikale Erhöhung der Personalressourcen, die für die notwendige Besinnung und Fortbildung des Personals unerlässlich ist. Wer 30 Stunden pro Woche unterrichten muss, kann nicht über sein Lernverständnis reflektieren, seine bisherigen Lehrstrategien radikal infrage stellen und neue Unterrichtskonzepte, geschweige seine ganze Schule (mit-)entwickeln. Er kann unter solchen Bedingungen seinen Betrieb nur aufrechterhalten, wenn er genauso weitermacht, wie bisher. Daher der verständliche Widerstand vieler gestresster Lehrer gegen dauernde Top-Down-Reformprojekte. Die große Schulreform in Finnland hat darum vor mehr als 15 Jahren die Unterrichtsverpflichtung und die Klassengrößen jahrelang so stark reduziert, dass es den Lehrern nicht nur möglich war sondern auch eine Freude sein konnte, Bisheriges kritisch infrage zu stellen und neugierig neu und umzulernen, was professionelles Pädagogesein heute heißt.