Wieder und Wiedervorlage: Auf dem rechten Auge

Wiederwiedervorlage: Anlässlich der derzeit nicht mehr so gut zu leugnenden strukturellen Hintergründe für Rechtsextremismus bei der Polizei:
Und ja, auch die rechtsblinden Augen der Herrschenden brauchen Personen UND Strukturen. Aber der Sinn der ganzen Veranstaltung ist geblieben: last resort vor einer möglichen Überwindung des Kapitalismus. (Adorno: Wer über den Faschismus reden will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen.)

Wiedervorlage: Anlässlich der Vorgänge in Heidenau, und wie Mainstream-Medien und Regierungs-Politik damit umgehen, hier zur Wiedervorlage ein Dokument, das es meines Wissens nach leider bisher in kein Geschichts-Schulbuch geschafft hat (vermutlich aus eben den Gründen, für die es der Nachweis ist: Klassenjustiz in der Weimarer Republik).
Dass nicht nur Justitia, sondern auch die Exekutive, voran die Ordnungskräfte gerne immer wieder das rechte Auge zukneifen, hat Kontinuität bis heute. Scheut sich das politische System mit den Nazis und ihren Dunstkreisen endlich aufzuräumen, weil man meint, man könnte sie in kommenden Auseinandersetzungen doch noch einmal wieder brauchen?

„Weltbild verhindert systematische Ermittlungen“ diagnostiziert Christian Semmler in der Taz die Krankheit hinter dem Symptom, das jetzt endlich ob der Größenordnung zum Skandal geworden ist.

Während meines Geschichtsstudiums – auch schon sehr lange her – beeindruckte mich aus dem damals 1975 als Grundlagenliteratur neu herausgekommenen Band von Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten folgende Tabelle (S. 75):

Nr. 44 Insgesamt ergibt sich über die Zahl der politischen Morde 1919-1922 durch Rechtsstehende und Linksstehende folgende Relation:

Politische Morde, begangen von Rechtsstehenden Linksstehenden
Ungesühnte Morde 27 1
Teilweise gesühnte Morde 326 4
Gesühnte Morde 1 17
Gesamtzahl der Morde 354 22
Zahl der Verurteilungen 24 38
Geständige Täter freigesprochen 23
Geständige Täter befördert 3
Dauer der Einsperrung pro Mord 4 Monate 15 Jahre
Zahl der Hinrichtungen 10
Geldstrafe pro Mord 2 Papiermark

Es ist nicht verkehrt, unter Zuhilfenahme des Fragepronomens „inwiefern“ immer mal wieder über Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte nachzudenken. Heute ist so ein Tag.

Das Buch gibt es übrigens ab Euro 0,56 gebraucht und als Sammlerstück. Es enthält auf 482 Seiten noch viele weitere sehr interessante Dokumente.

Grenzen ziehen, wahren und überwinden. Bildung als Arbeit im Grenzgebiet

Vortrag in der Neuen Philanthropischen Gesellschaft im Rahmen der Veranstaltungsreihe 2017/18 „Grenzen – über ein bedrohtes Grundprinzip des Lebens“

Kingofears, Laufgitter, CC BY-SA 3.0

Grenzen ziehen, wahren und überwinden. Bildung als Arbeit im Grenzgebiet – das ist der Titel meines Vortrags.
Sie hören schon, es gibt gleich eine Menge gedanklich zu tun. Ich hoffe, Sie lassen mich dabei nicht im Stich, und es gelingt mir, Sie in den Gedankengang hinein zu verwickeln. Ich bedanke mich schon im Voraus für Ihre Geduld.
Einiges an meinen Gedanken wird Ihnen vielleicht ungewöhnlich erscheinen, manches irritieren und zum Widerspruch reizen. Das soll auch gerne so sein. Widersprechen Sie!

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Wiedervorlage: Auf dem rechten Auge

Anlässlich der Vorgänge in Heidenau, und wie Mainstreem-Medien und Regierungs-Politik damit umgehen, hier zur Wiedervorlage ein Dokument, das es meines Wissens nach leider bisher in kein Geschichts-Schulbuch geschafft hat (vermutlich aus eben den Gründen, für die es der Nachweis ist: Klassenjustiz in der Weimarer Republik).
Dass nicht nur Justitia, sondern auch die Exekutive, voran die Ordnungskräfte gerne immer wieder das rechte Auge zukneifen, hat Kontinuität bis heute. Scheut sich das politische System mit den Nazis und ihren Dunstkreisen endlich aufzuräumen, weil man meint, man könnte sie in kommenden Auseinandersetzungen doch noch einmal wieder brauchen?

„Weltbild verhindert systematische Ermittlungen“ diagnostiziert Christian Semmler in der Taz die Krankheit hinter dem Symptom, das jetzt endlich ob der Größenordnung zum Skandal geworden ist.

Während meines Geschichtsstudiums – auch schon sehr lange her – beeindruckte mich aus dem damals 1975 als Grundlagenliteratur neu herausgekommenen Band von Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten folgende Tabelle (S. 75):

Nr. 44 Insgesamt ergibt sich über die Zahl der politischen Morde 1919-1922 durch Rechtsstehende und Linksstehende folgende Relation:

Politische Morde, begangen von Rechtsstehenden Linksstehenden
Ungesühnte Morde 27 1
Teilweise gesühnte Morde 326 4
Gesühnte Morde 1 17
Gesamtzahl der Morde 354 22
Zahl der Verurteilungen 24 38
Geständige Täter freigesprochen 23
Geständige Täter befördert 3
Dauer der Einsperrung pro Mord 4 Monate 15 Jahre
Zahl der Hinrichtungen 10
Geldstrafe pro Mord 2 Papiermark

Es ist nicht verkehrt, unter Zuhilfenahme des Fragepronomens „inwiefern“ immer mal wieder über Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte nachzudenken. Heute ist so ein Tag.

Das Buch gibt es übrigens ab Euro 0,56 gebraucht und als Sammlerstück. Es enthält auf 482 Seiten noch viele weitere sehr interessante Dokumente.

Über das Erlernen professionellen Lehrerverhaltens – Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Georg Lind

Georg Lind ist Professor für Psychologie und hat bis zu seiner Emeritierung in der Lehrerbildung Pädagogische Psychologie an der Universität Konstanz unterrichtet. Er hat  die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) nach Lawrence Kohlberg entwickelt und engagiert sich weiterhin als Lehrerfortbildner.

Georg Linds Newsletter „Bildungsinfo“ ist nicht nur sehr beliebt wegen seiner treffsicheren Auswahl an relevanter aktueller Lektüre für Lehrer an Schulen und Hochschulen, sondern auch und vor allem wegen seiner Kommentare dazu, die wesentlich beitragen, die aktuellen Bildungs-Debattenthemen auf wissenschaftliches Niveau zu bringen, und dabei immer verständlich geschrieben sind ohne zu simplifizieren.

In einer der letzten Sendungen des Bildungsinfos hat Georg Lind anlässlich eines Interviews in der Taz mit Annedore Prengel über die Bedeutung der Beziehungsgestaltung durch den Lehrer für die Lernbereitschaft von Schülern entscheidende Dinge gesagt. Und außerdem gibt er Antworten auf die Frage, wie die Fähigkeit zu einer lernförderlichen Beziehungsgestaltung zu lernen ist. Hier sein ganzer Kommentar im Wortlaut:
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Auf dem rechten Auge

„Weltbild verhindert systematische Ermittlungen“ diagnostiziert Christian Semmler in der Taz die Krankheit hinter dem Symptom, das jetzt endlich ob der Größenordnung zum Skandal geworden ist.

Während meines Geschichtsstudiums – auch schon sehr lange her – beeindruckte mich aus dem damals 1975 als Grundlagenliteratur neu herausgekommenen Band von Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten folgende Tabelle (S. 75):

Nr. 44  Insgesamt ergibt sich über die Zahl der politischen Morde 1919-1922 durch Rechststehende und Linksstehende folgende Relation:

Politische Morde, begangen von Rechtsstehenden Linksstehenden
Ungesühnte Morde 27 1
Teilweise gesühnte Morde 326 4
Gesühnte Morde 1 17
     
Gesamtzahl der Morde 354 22
     
Zahl der Verurteilungen 24 38
Geständige Täter freigesprochen 23
Geständige Täter befördert 3
Dauer der Einsperrung pro Mord 4 Monate 15 Jahre
Zahl der Hinrichtungen 10
Geldstrafe pro Mord 2 Papiermark

Es ist nicht verkehrt, unter Zuhilfenahme des Fragepronomens „inwiefern“ immer mal wieder über Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte nachzudenken. Heute ist so ein Tag.

Das Buch gibt es übrigens ab Euro 0,56 gebraucht und als Sammlerstück. Es enthält auf 482 Seiten noch viele weitere sehr interessante Dokumente.

Lehrer müssen begeisterte Dickbrettbohrer, Problemknacker und Expeditionsleiter sein

„Wenn es schwierig wird, schaut man ins Handbuch der Behördenanordnungen.“
„Ich muss erst meinen Vorgesetzten fragen.“
„Lieber nichts gemacht als was falsch gemacht.“
„Ich bin nicht zuständig!“
„Wir haben dafür schon ein Programm.“
„Wir können leider nichts machen, da wir dazu nicht befugt (beauftragt) sind.“

So und ähnlich lauten die (un-)ausgesprochenen Systemregeln für ein problemarmes (Lehrer-) Dasein Weiterlesen

Zitate für 2011, Nr. 2

Die Revolution haben wir auf der Straße gemacht, aber ohne Youtube, Facebook und Twitter wäre uns dies nicht gelungen.

Der tunesische Student Ali Bouzizi auf dem Weltsozialforum in Dakar 2011, zit. n. taz, 12./13. 2. 2011

Climate Change: Probleme lösen, die wir kennen

Gerne wird in Zusammenhängen von Bildung und Neuen Medien Karl Fisch zitiert:

We are currently preparing students for jobs and technologies that don’t yet exist … in order to solve problems we don’t even know are problems yet.

Und großes Staunen setzt ein ob der unglaublichen paradox erscheinenden Aufgabe. Vergessen wird dabei jedoch häufig, dass die Zukunft mit ihren zukünftigen Werkzeugen, Berufen und Problemen noch nie im Einzelnen bekannt war, Bildung und Ausbildung also immer unter den Bedingungen und mit den Mitteln der Gegenwart stattfindet.

Die Aufgabe lautet folglich immer: Gegenwärtige Probleme identifizieren und lösen.

Zukunftsfähigkeit erweist sich zunächst darin, den adäquaten Bezugsrahmen zur Problemdefinition zu finden. Nur dann können angemessene Lösungen gefunden und umgesetzt werden.

Das gegenwärtig vordringliche Problem der Menschheit ist der Klimawandel. Er liegt nicht in der Zukunft, sondern hat schon stattgefunden und findet statt. Die Folgen dieses Klimawandels sind schon zu sehen – bisher meist an der Peripherie und noch nicht in den Zentren.

Der Klimawandel ist […] ein Kulturwandel und ein Ausblick auf künftige Lebensverhältnisse. […] Wer 2010 zur Welt kommt, kann das Jahr 2100 noch erleben; ohne rasches und entschlossenes Gegensteuern wird die globale Durchschnittstemperatur dann um vier bis sieben Grad Celsius gestiegen sein und unsere Nachkommen eine Atemluft vorfinden, wie sie heute nur in engen und stickigen Unterseebooten herrscht. (Leggewie/ Welzer, S. 10)

Zumindest die Folgen des Problems sind bekannt, sollte es nicht gelöst werden.   Der Satz Einsteins, die Probleme seien nicht mit den Denkweisen zu lösen, die sie geschaffen haben, ist zur Zeit viel bedeutsamer als das beeindruckende Zitat von Fisch. Wir – und nicht erst unsere Kinder –  müssen tatsächlich neu denken lernen:

Der Unwillen oder die Unfähigkeit, die Endlichkeit der verfügbaren Optionen auch nur zu denken, zeigt die Schwerkraft, die die Vorstellung eines immerwährenden Fortschritts und Aufstiegs in unserem kulturellen Habitus hat. Die Zukunft ist wie jetzt, nur besser.  […] Die Vorstellung, dass die uns vorhergesagte Zukunft knapp bemessen sei, ja schon hinter uns liegen könnte, scheint bizarr – genauso wie die Aussicht, dass, wenn wir jetzt nicht handeln, in zwanzig oder fünfzig Jahren keine Handlungsmöglichkeit mehr besteht. (Leggwie/ Welzer S. 16f)

Gegenwärtig handeln wir jedoch im Gegensatz zu Heinz v. Försters Imperativ „Handle stets so, dass die Zahl deiner Handlungsmöglichkeiten wächst“. Wir minimieren stattdessen die Handlungsmöglichkeiten der nahen Zukunft, wenn wir mit  Problemlösungen aufwarten vom Schlage der Abwrackprämie und mit der Vorstellung: in der Wirtschaftskrise erst die Wirtschaft, dann das Klima.

Dies  sind Befunde der gegenwärtigen Problemlage, wie sie Claus Leggewie und Harald Welzer in ihrem ausgezeichneten Buch Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie im ersten Kapitel mit vielen empirischen Nachweisen darlegen.

Im zweiten Kapitel wird die wichtige Frage, die das zu lösende gesellschaftliche Problem beschreibt, erörtert: „Denn sie tun nicht, was sie wissen. Warum Umweltbewusstsein und Handeln verschiedene Dinge sind“. Mit der von Welzer schon in seinen früheren Büchern zum Täterhandeln in Genoziden angewandten fruchtbaren Unterscheidung zwischen partikularem und universalistischem Denken kann die Ursache verstanden werden.

Obwohl schon Anfang der 70er Jahre die  Grenzen des Wachstums durch den Club of Rome deutlich aufgezeigt worden waren, ist selbst heute, mehr als 35 Jahre später und mit deutlichen Konsequenzen ein adäquates politisches Handeln noch nicht in Sicht. Die Ursachen dafür benennen Welzer und Leggewie im dritten Kapitel. Sie liegen in einem falschen Problemverständnis. Zitat Dirk Baecker:

„Ihren Dreck produziert die Gesellschaft auf einer Ebene erster Ordnung. Sie tut, was sie tut, und sie tut es lo lange, wie es nicht auffällt beziehungsweise wie die Beobachter auf Abstand gehalten werden können. Ihre Lösungen jedoch kann die Gesellschaft nur auf einer Ebene zweiter Ordnung produzieren.“ (Dirk Baecker: Die große Moderation des Klimawandels, die tageszeitung v. 17.2.2007, S. 21)

Da ist er wieder, der Einstein, diesmal in der Sprache der Systemtheorie.

Welzer/Leggewie identifizieren eine Krise der Weltgesellschaft und nennen sie  eine

Metakrise, ein[en] Zustand, in dem das System selbst gefährdet ist, weshalb wir den Bezugsrahmen verändern müssen, in dem wir es betrachten. […] Der Klimawandel wirft die Systemfrage auf. […] Klima- und Wirtschaftskrise entspringen dem gleichen Muster organisierter Unverantwortlichkeit. (101ff)

Marktlogik, Wachstum als quantitative Größe und Geo-Engineering als Lösungsansatz in der Optimierungslogik (dem alten Denken) kommen auf den Prüfstand und werden als Teil des Problems identifiziert.

Im vierten Kapitel wird die bekannte These diskutiert, ein Umdenken und ein adäquates Handeln sei nur in einer Rückkehr zur autoritären Herrschaft und mit topdown-verordneten Lösungen möglich,  – und verworfen. Im Gegenteil – so die Autoren,

bleibt die einzige ernsthafte Alternative: mehr Demokratie wagen. Bruno S. Frey hat gezeigt, dass es der „Prozessnutzen“ ist, was Menschen an der Demokratie schätzen, […] also das Interesse und die Freude daran, auf Ergebnisse Einfluss nehmen zu können – und der ist eine extrem wichtige Vitalisierungsquelle der Demokratie. […] Ähnliches erlebt man bei Arbeitsfreude, einer würdigen und kollegialen Behandlung durch Vorgesetzte, einem fairen Fußballspiel, beim Zünden einer Idee. (S. 172)

Wachstum muss also neu  qualitativ anstatt quanitativ begriffen werden.  Wir steigern das Bruttosozialglück fordert die sonntaz  und meint dasselbe. Es geht um ein Umdenken von einer Verzichtslogik zu einer Logik der Steigerung von Lebensqualität. Im fünften Kapitel zeigen Welzer/Leggewie , dass die einzige Möglichkeit der Problemlösung in einer kulturellen Revolution, einer Großen Transformation, besteht. Verstanden werden muss sie dazu nicht nur als „Veränderungszumutung“ sondern auch als „Veränderungschance„, als „ureigenes Projekt [ ], das die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht besser machen kann als sie ist.“ (174)

Dass diese Lösungsdefinition nicht  idealistisches Wunschdenken oder bloß normativer Appell ist, sondern reale Möglichkeit, belegen Welzer/Leggewie mit vielen Beispielen – nicht zuletzt aus dem Bereich der eDemocracy 2.0.  Trotzdem schließen sie das Kapitel mit einer Werbung für den neuen Habitus, der ich mich anschließen möchte:

Die APO 2.0 zielt auf die Renaissance des Gemeinwesens, sie ist keine Organisation, sondern eine Haltung. Eine solche Bewegung ist weniger von Karl Marx inspiriert als von Joseph Beuys und seinem Leitspruch La Rivoluzione siamo Noi – Die Revolution sind wir. Wenn Sie der Auffassung sind, dass die Leitkultur der Vergeudung von gestern ist und etwas zu ihrer Abschaffung beitragen wollen, dann machen Sie bitte einfach mit.