Täterforschung und Geschichtsunterricht

Perpetrator Research in a Global Context/(Täterforschung im globalen Kontext) hieß die zweite internationale Tagung zur Holocaustforschung vom 27. – 29. Januar 09 in Berlin. Gemeinsam ausgerichtet vom Holocaust Research Centre der University of London, der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, bot die Tagung für über 400 Teilnehmer die „Crème“ der deutschen und angelsächsischen Akteure in der Täterforschung. Obwohl die Tagung sich gleichermaßen an Wissenschaftler, Journalisten und Pädagogen gerichtet hatte, waren leider nur wenige Lehrer der Einladung gefolgt. Dass der gesamte zweite Tag der Konferenz den Fragen padägogischer Vermittlung gewidmet war, hatte man jedoch schon dem Programm vorab in der Einladung entnehmen können.

In den 12 Vorträgen des ersten Konferenztages wurde eine Vielzahl von Aspekten der vergleichenden Täterforschung erörtert. Gemeinsam stand hinter jedem Ansatz und jedem empirischen Material jedoch die Frage: „Wie konnten aus „ganz normalen“ Menschen Mörder und Massenmörder werden?“ Insgesamt erhielt man aus der Zusammenschau der immer reichlich mit Empirie unterfütterten Erklärungsansätze einen guten Überblick über den Stand der Forschung. Dabei zeigte sich, dass die historische und sozialwissenschaftliche Forschung diese Frage schon erstaunlich differenziert und multikausal beantworten kann. Die Forschungsergebnisse standen damit dem Diktum des Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble, der in seiner Einführungsrede erklärt hatte, diese Taten seien desto unbegreiflicher, je mehr man sich mit ihnen beschäftige, diametral entgegen.

Im Panel „The Path Leading from Research to Citizenship Education: Transfer of Knowledge and General Aspects“ standen Fragen der Erziehung und Bildung zur Debatte, vorwiegend fokussiert auf die Einbeziehung der neuen Ergebnisse der Täterforschung. Wiederholt wurde – auch in den Workshops – deutlich, dass die Frage nach den Faktoren, die Menschen zu Tätern werden ließen, eine für Schüler (und für alle Menschen) zentrale Frage ist, die jedoch im Geschichtsunterricht aus verschiedenen Gründen bisher meist unbeantwortet bleibt – wenn ihr denn überhaupt Gelegenheit gegeben wird, sich zu artikulieren. Der Schulunterricht über den Holocaust bewegt sich immer noch meist in Überwältigungsstrategien unterschiedlichster Art – sei es emotionale, moralische oder kognitive Überwältigung. Dies wurde insbesondere in der Studie von Simone A. Schweber (University of Wisconsin) sichtbar, die die unterschiedlichsten Unterrichtszenarien in den Vereinigten Staaten untersucht hatte. „The students are treated with Holocaust“, lautete Schwebers Befund, der ebenso für den Unterricht in Deutschland gilt: Nirgendwo wird der Beutelsbacher Konsens so systematisch und immer noch weitgehend unhinterfragt verletzt wie im Unterricht über das Thema Holocaust. Die Täter und die Frage, „wie sie es geworden sind“, als Untersuchungsgegenstand im Unterricht zu etablieren – und zwar ohne sich dabei einer Überwältigungsstrategie zu bedienen, wie es etwa in Rollenspielen geschieht! – ist ganz sicher ein notwendiger und wichtiger Schritt, um die Ergebnisse des Geschichtslernens zu verbessern.

Leider blieb es jedoch auch in den Workshops in der Regel dabei, neues Unterrichtsmaterial vorzustellen. Es stellte sich dabei erneut heraus, dass es weniger an Material fehlt (Quellenmaterial ist in großen Mengen u.a. im Netz zu finden, Material zur „zweiten Geschichte“ des Holocaust gibt es praktisch jeden Tag im Kino, in der Zeitung, auf dem Schulhof …). Die eigentliche Frage besteht darin: „Wie damit unterrichten?“ Wo überhaupt thematisiert wurde, wie mit diesem Material im Unterricht umgegangen werden müsste, zeigte sich, dass man hinsichtlich der sogenannten „didaktisch-methodischen Umsetzung“ immer noch in der nicht bewährten Vermittlungsstrategie denkt, die den Schülern die Aufgaben und Fragen vorgibt, mit denen sie den historischen Gegenstand erschließen sollen, und in der außerdem Ziele und Ergebnisse des Lernens im Voraus festgelegt werden. Nur sehr vereinzelt wurde von Teilnehmern geäußert, dass Lernen die gegenwärtige Beziehung des Lernenden zum Gegenstand einschließen müsse und Geschichtsunterricht weder vermeintlich objektive Rekonstruktion von Vergangenheit, noch der Stofflieferant von worst cases zur Moralerziehung sein könne.

Bei der Präsentation der Graphic novel „Die Suche“ – ein extra für Unterrichtszwecke hergestelltes Comic-Artefakt mit dazugehörigen Schülerarbeitsbögen, herausgegeben vom Anne-Frank-House Amsterdam – stellte sich die Frage, wozu ein solches pädagogisches Konstrukt im Tim & Struppi-Stil extra entwickelt werden müsse, wo es doch gerade zu diesem Thema schon ein echtes, einmalig schönes Kunstwerk gibt: den Pulitzer-preisgekrönten zweiteiligen Holocaust-Comic von Art Spiegelman „Maus“ . Er eignet sich meiner Erfahrung nach hervorragend für Jugendliche und Erwachsene, um dekonstruierend eine Fülle von Fragen an den Gegenstand und an das eigene Verhältnis zum Gegenstand zu generieren, im Gespräch zu kommunizieren und anschließend eigene Forschungsfragen zur Rekonstruktion in Geschichtsnarrativen zu bilden. Im Übrigen halte ich ihn für eines der Kunstwerke, die in einen Kanon der Allgemeinbildung gehörten, wenn ich mich entscheiden könnte, solche für sinnvoll zu halten. Auf die Gegenwartsperspektive eines Sohnes von Holocaust-Überlebenden („Mein Vater kotzt Geschichte aus“) im ersten Band von „MAUS“ folgt eine Rekonstruktion der Verfolgungsgeschichte der Eltern im zweiten Band („Und hier begann mein Unglück“). Die Bundeszentrale hatte 2008 die Arbeit von Art Spiegelman aus ihrem Sortiment wieder zurückgezogen, nachdem sie sie zunächst für den Unterricht empfohlen hatte. In diesem Vorgehen zeigt sich ein Merkmal der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschichtsdeutung. Im Fall Holocaust-(Erziehung) ist man noch immer eher bereit, pädagogisch reduzierte schlechte Kunst einzusetzen als verstörende und beunruhigende wirkliche Kunstwerke. Aber das Verstörende wäre ja überhaupt der Ausgangspunkt des Lernens. Offensichtlich hat man jedoch immer noch Angst vor unkontrollierbaren Lernergebnissen, die in der Begegnung mit echtem Material aus der Realität der Gegenwart entstehen können. Man bemüht sich verzweifelt, die Schüler zu motivieren, aber diejenigen Motive, die aus der Begegnung mit Realität von den Schülern selbst entwickelt werden, scheinen – zumindest im Fall Holocaust – die meisten Pädagogen zu sehr zu beunruhigen, als dass sie sie zulassen können. (Dies zeigte sich z.B. auch in der Diskussion mit dem Schöpfer des Audioweg Gusen, Christoph Mayer, in der Schlussrunde. Seine Beiträge verstörten den Moderator gleichermaßen wie sie einige Teilnehmer erfreuten.) Diesen Umstand zumindest teilweise sichtbar gemacht zu haben, ist eines der Verdienste dieser Tagung.

update: Inzwischen ist die Rede Schäubles auf der BMI-Seite veröffentlicht. Sie wurde um einiges bereinigt, nämlich um die Teile, in denen der Innenminister offenbar „ins Unreine“ gesprochen hatte. Ich vermisse in der offiziellen Verschriftlichung, dass Herr Schäuble erstens davon sprach, wie schwierig er es findet, an einem solchen Termin als Deutscher zu einem solchen Thema zu sprechen. Und ich vermisse seinen Satz, in dem er bekannte, dass je mehr er über dieses Thema erfahre, desto unfassbarer es ihm würde.
(Auf diese Aussage wurde ja sogar in der Diskussion zuweilen Bezug genommen.) Ich vermisse auch etwas in seinem Schlussteil, was einige der Zuhörer ziemlich irritierte: Er sprach davon, dass wir immer ein Korrektiv bräuchten, damit wir maßhalten können. Mit dem Maßhalten schien er sich auf die Anwendung von Gewalt zu beziehen. (Das öffnete einen großen Raum für verschiedene Fantasien.)
Was man an einem solchen völlig normalen und alltäglichen Vorfall in Sachen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur – nämlich die genaueste Überarbeitung des Gesagten – sehen kann: Geschichtsdeutungen werden ausgehandelt und anschließend offizialisiert. Sie gehören dann zu Konventionen, deren Aushandlungscharakter man sich klar machen muss. Ein wichtiges Thema für den Erwerb von Geschichtskompetenz! Es gehört in die Schule! – Wer jetzt gerade seinen Geschichtsunterricht dazu vorbereitet, findet in der aktuellen Realität dazu bilderbuchreifen Stoff in der Papst-Ratzinger-Piusbruderschaft-Williamson-Holocaustleugner-Geschichte. Hier bereitet die Aushandlung momentan Mühe und wird noch ein paar Tage anhalten.

Holocaust und Nationalsozialismus im Unterricht

– „Überlegungen zu einer zeitgemäßen Vermittlung“ war das Thema einer Fachtagung der Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz am 23./24. 4. 07 in Berlin. Etwa 70 Lehrer, Lehrerausbilder und –fortbildner, Vertreter der Bundeszentrale, Mitarbeiter und Repräsentanten von Kultusministerien und Schulbehörden, von Gedenkstätten, Instituten, Stiftungen und Berufsverbänden, sowie Fachdidaktiker für Geschichte und Politische Bildung trafen sich zu Erfahrungsaustausch und Debatte.

Ausgangspunkt der Diskussion um eine neue Didaktik der Erziehung nach Auschwitz waren verschiedene Ereignisse bzw. Befunde:

1. das Aussterben der Zeitzeugen und die Historisierung des Holocaust sowie die daran anknüpfende Forderung des Zentralrats nach Einführung eines Unterrichtsfaches „Holocaust Education“ in den Schulen;
2. empirische Befunde im paradoxen Feld von „Übersättigung“ bzw. „Ahnungslosigkeit“ der Jugendlichen bezüglich des Themas Holocaust;
3. die Frage, was die Beschäftigung mit dem Holocaust für die wachsende Zahl von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bedeutet.

Dietmar von Reeken, Prof. für Geschichtsdidaktik an der Universität Oldenburg, sprach in seinem Vortrag über den Stellenwert des Geschichtsunterrichts in der Auseinandersetzung mit Holocaust und NS. Seine Analyse: Der Gegenstand ist geprägt durch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und hohe mediale Präsenz, die bisher im Unterricht nicht thematisiert wird; wegen des Chronologie-Prinzips im Geschichtsunterricht kommt das Thema erst spät im Unterricht vor, obwohl die Schüler in ihrer außerschulischen Sozialisation schon Jahre früher damit in Berührung kommen; neue Unterrichtsmodelle orientieren sich weitgehend an der gymnasialen Oberstufe, obwohl die meisten Schüler mit Affinität zum Rechtsextremismus aus „bildungsfernen“ Schichten stammen; der traditionelle Unterricht berücksichtigt bisher nicht den völlig anderen Zugang von Schülern mit Migrationshintergrund; die Einstellung zum Gegenstand ist moralisch vorgegeben: „Schüler wissen genau, welche Haltung dazu von ihnen erwartet wird“, was zu einer Anpassung an fertige gesellschaftliche Urteile führt; statt Pluralismus im Geschichtsunterricht, der verschiedene Deutungen zur Debatte stellen müsste, orientiert sich der traditionelle Unterricht zum Thema Holocaust an dem Wunsch, eine solide kognitive Basis und eine Verinnerlichung der gesellschaftlich erwünschten Haltung herzustellen. Fazit: „Vieles davon spricht für eine geringe Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts.“
Von Reekens Forderung an kompetenzorientierten Geschichtsunterricht: Schüler müssen Strategien entwickeln, mit gesellschaftlichen Diskursen und mit den Medien umgehen zu können – und zwar dann, wenn sie aktuell sind, nicht erst, wenn das Thema Holocaust im Rahmenplan „dran“ ist.

Dirk Lange, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg und Vorsitzender des Deutschen Verbands für Politische Bildung (DVPB), formulierte vier Kompetenzen der Politischen Bildung, in denen er die von von Reeken geforderte Diskurskompetenz noch weiter zuspitzte: Mit der vierten, der geschichtspolitischen Kompetenz verstehen die Schüler, daß die Deutung von Geschichte ein interessengeleiteter politischer Prozeß ist. Sie begreifen, wie in der Gesellschaft versucht wird, individuelle Geschichtsdeutung zu allgemein verbindlicher zu erklären. Die Schüler müssen diesen Prozess nicht nur verstehen, sondern ihn auch selbst mitgestalten lernen.

Robert Sigel, Historiker und Mitarbeiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, legte erste Auswertungen seiner Studie an bayerischen Schulen vor, in der sich zeigte, daß Schüler in der Regel ein großes Interesse am Thema Holocaust und NS mitbrachten – schon lange vor der Behandlung im Unterricht – und sich meist zufrieden mit dem Unterricht zum Thema zeigten. Diejenigen, die unzufrieden mit dem Unterricht waren, wollten anschließend keinen weiteren Unterricht in dieser Weise. Die befragten Lehrer waren jedoch weit mehr enttäuscht von den Unterrichtsergebnissen als die Schüler – was daher rührte, daß sie häufig die von ihnen bei den Schülern intendierte Form der Betroffenheit vermißten.
Deutlich wurde hier vielen Tagungsteilnehmern, daß eine Abwehrreaktion von Schülern gegen eine Wiederaufnahme des Themas in einem zweiten Geschichts-Durchgang in der Oberstufe des Gymnasiums daher rührt, daß der erste Unterricht meist nicht am persönlichen Sinn der Schüler angeknüpft und stattdessen die Schülerfragen ignoriert hatte. Das scheinbare Paradox „Übersättigung“ und „Ahnungslosigkeit“ löst sich somit in dem Befund auf, daß eine andere Art von Unterricht erforderlich ist, statt mehr vom selben.

Deutlich wurde in diesen Beiträgen, in der Plenumsdiskussion sowie im Workshop III („Außerschulische Lernorte als Bausteine zur Unterrichtsgestaltung“) zum zweiten, daß eine solche andere Art von Unterricht nur in der Entwicklung einer neuen Lernkultur liegen kann, die in Abkehr vom normativ bevormundenden Unterricht nach instruktivistischer Tradition Modelle projektartigen, subjektorientierten und selbstbestimmten Lernens auch mit außerschulischen Kooperationspartnern entwickelt, erprobt und institutionalisiert. Auf die von einigen Teilnehmern skeptisch erhobene Behauptung hin, solche Art Unterricht sei nur etwas für die gymnasiale Oberstufe und Schüler müßten überhaupt erst eine mit vielem kognitiven Wissen abgestützte „Fragekompetenz“ entwickelt haben, gaben andere Teilnehmer Hinweise auf erfolgreich durchgeführte Projekte mit professionellen Produkten als Ergebnis auch in der Hauptschule.

Der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) stellte seine Thesen und Forderungen zum Geschichtsunterricht über NS und Holocaust vor, die in einer Broschüre veröffentlicht werden, herausgegeben vom Leo Baeck-Institut.
Zentralen Stellenwert hat darin das Konzept der
„Integrierten deutsch-jüdischen Geschichte“ , das in einem aktuellen Heft der bpb-Publikationsreihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ 14-15/2007) von Saul Friedländer vorgestellt wird.

Hingewiesen sei noch auf die interessanten Vorträge von Karl-Peter Fritzsche zur Menschenrechtserziehung und von Robert Sigel zum internationalen Ansatz der Holocaust Education. In beiden Konzepten geht es um die Universalisierung der Lehren aus dem Holocaust, um Werteerziehung und Erziehung zur Demokratie. Vor allem Karl-Peter Fritzsches Vortrag zeigte dabei deutlich, daß die Schule nicht nur einen neuen Unterricht und eine neue Lehrerrolle, sondern ebenso die Entwicklung einer demokratischen Schulkultur benötigt, in der Schüler nicht nur ÜBER den Holocaust als worst case–Folge undemokratischer Gesellschaft kognitives Wissen sammeln, sondern Demokratie durch eigene Partizipation an der Gestaltung ihrer Umwelt – der Schule – erleben können.