Auf dem rechten Auge

„Weltbild verhindert systematische Ermittlungen“ diagnostiziert Christian Semmler in der Taz die Krankheit hinter dem Symptom, das jetzt endlich ob der Größenordnung zum Skandal geworden ist.

Während meines Geschichtsstudiums – auch schon sehr lange her – beeindruckte mich aus dem damals 1975 als Grundlagenliteratur neu herausgekommenen Band von Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten folgende Tabelle (S. 75):

Nr. 44  Insgesamt ergibt sich über die Zahl der politischen Morde 1919-1922 durch Rechststehende und Linksstehende folgende Relation:

Politische Morde, begangen von Rechtsstehenden Linksstehenden
Ungesühnte Morde 27 1
Teilweise gesühnte Morde 326 4
Gesühnte Morde 1 17
     
Gesamtzahl der Morde 354 22
     
Zahl der Verurteilungen 24 38
Geständige Täter freigesprochen 23
Geständige Täter befördert 3
Dauer der Einsperrung pro Mord 4 Monate 15 Jahre
Zahl der Hinrichtungen 10
Geldstrafe pro Mord 2 Papiermark

Es ist nicht verkehrt, unter Zuhilfenahme des Fragepronomens „inwiefern“ immer mal wieder über Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte nachzudenken. Heute ist so ein Tag.

Das Buch gibt es übrigens ab Euro 0,56 gebraucht und als Sammlerstück. Es enthält auf 482 Seiten noch viele weitere sehr interessante Dokumente.

Lehrer müssen begeisterte Dickbrettbohrer, Problemknacker und Expeditionsleiter sein

„Wenn es schwierig wird, schaut man ins Handbuch der Behördenanordnungen.“
„Ich muss erst meinen Vorgesetzten fragen.“
„Lieber nichts gemacht als was falsch gemacht.“
„Ich bin nicht zuständig!“
„Wir haben dafür schon ein Programm.“
„Wir können leider nichts machen, da wir dazu nicht befugt (beauftragt) sind.“

So und ähnlich lauten die (un-)ausgesprochenen Systemregeln für ein problemarmes (Lehrer-) Dasein Weiterlesen

Persönlicher Sinn und historisch-politisches Lernen. Ein Schulbeispiel zum Thema Holocaust

Zunehmender Rechtsextremismus – Anwachsen von Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft – fast keine Woche vergeht, in der wir nicht auf verschiedenen Ebenen der Politik, wissenschaftlicher Studien oder im Zusammenhang mit der Diskussion um Schule und Bildung und den mageren Ergebnissen des Geschichtsunterrichts mit diesen Befunden konfrontiert werden. Ist Holocaust Education als neues Unterrichtsfach oder Unterricht über Auschwitz in allen Fächern nötig? Oder muss die Gestalt des Geschichts- und Politikunterrichts auf den Prüfstand? Wie kann der Geschichtslehrer mit diesem Problem umgehen? Hat er einen besonderen Beitrag für die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Antisemitismus für die Gesellschaft zu leisten? Gibt es neue Ansätze zur Vermittlung der „Lehren aus dem Holocaust“, die ihn dabei unterstützen können?

Weil mich das Thema Holocaust umtreibt, seit ich denken kann, und die Vermittlung des Themas und die Frage der „Erziehung nach Auschwitz“ beschäftigen, seit ich Geschichtslehrerin bin, habe ich mich im letzten Jahr daran gemacht, den Problemzusammenhang „Schulunterricht zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust – Lernen und Wissen der Schüler – Einstellungen und Verhalten der Schüler“ gründlicher unter die Lupe zu nehmen. Ich habe Lerntheorie, allgemeine und Fachdidaktik sowie die Projektdidaktik geprüft, neue Unterrichtskonzepte untersucht, schließlich selbst ein Unterrichtsmodell entworfen und es anschließend mit Schülern in einem Pilotprojekt und danach mit Studenten, Referendaren und Lehrern ausprobiert. Das Projekt hieß:

„‚Richtiges‘ Erinnern? Wie können wir angemessen mit der Gegenwart unserer Vergangenheit umgehen? Ein (Selbst-)Erkundungsprojekt am Beispiel des Holocaust-Mahnmals in Berlin.“

Was dabei herausgekommen ist, ist nun ausführlich in meinem Aufsatz zu lesen:

„Was hat das mit mir zu tun“? Persönlicher Sinn und historisch-politisches Lernen

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Ist mir schlecht!

Erst dachte ich, es wäre Satire. Es mußte Satire sein, denn so dumm kann keiner wirklich sein. Dann dachte ich, die Taz hätte vielleicht ein Abkommen mit der Jungen Freiheit, ihr die Steilvorlage für die nächste Ausgabe zu liefern.
Aber jetzt glaube ich, es ist ernst gemeint. Zumindest von der Autorin des Taz-Artikels, Isolde Charim, die offenbar gebeten worden war, einmal zusammenzustellen, „Wie man Israel richtig kritisiert“. – gestern in der Taz auf Seite 4, Seitenüberschrift „Gebrauchsanweisung“:

Angesichts der derzeitigen Kämpfe im Südlibanon fragen sich viele Deutsche: Wie können sie Israel kritisieren, ohne sich dem Vorwurf des Antisemitismus auszusetzen? Keine Scheu! Solidarisch gemeinte Kritik an dem jüdischen Staat ist stets möglich – wenn man sich an ein paar Leitsätze hält.“ Und dann fett:
„So ist Israelkritik politisch korrekt“
Und dann kommen im Gestus einer Brigitte-Stilberaterin ein paar does an don’ts zum „richtigen“ Meinen.

Ja Himmelherrgottsackzement, ist mir schlecht! Ich bin fassungslos. Ich kann gar nicht soviel essen wie ich jetzt kotzen muß. Ist die Frau so unglaublich dumm? Oder ist die Taz so unglaublich niederträchtig, sie ins Messer rennen zu lassen?

Verdammt nochmal! Es geht doch nicht darum, daß man sich vor dem Vorwurf schützen muß, man sei Antisemit. Es geht darum, daß man keiner ist. Und was soll das denn heißen: „Solidarisch gemeinte Kritik ist stets möglich“? – Jede Kritik ist stets möglich – und selbstverständlich ohne irgendwelche Leitsätze!

Die Leitsätze heißen: „Hüten Sie sich … “ und „Vermeiden Sie …“
Ah ja. Klartext: Eigentlich wollten wir ja genau das und das sagen, aber es sieht nicht gut aus und führt zu unangenehmen Vorwürfen. Also hüten wir unsere Zunge, auf daß die Wahrheit nicht ans Licht komme, und vermeiden wir das zu sagen, was wir eigentlich meinen, denn es macht sich nicht „politisch korrekt“ und das ist das Wichtigste. Das ist offenbar der oberste Wert in unserer „Wertedemokratie“: Daß wir das sagen, was von uns verlangt wird. Wir können den letzten Bockmist zusammendenken, rassistisch, antisemitisch und nationalistisch bis in die Knochen sein, das kümmert niemanden – nur zeigen dürfen wir es nicht. Da frage ich mich als Politiklehrerin aber: Wie kann ich solche Auffassungen bekämpfen, wenn sie sich gar nicht artikulieren?

Mein lieber Schwan! Einen besseren Beleg für die Richtigkeit der Behauptung der Rechten, Ultrarechten und Extremrechten, in diesem Lande sei selbständiges Denken und unabhängige Meinungsäußerung nicht möglich, kann sich die antisemitische Rechte ja gar nicht wünschen! Erste Klasse Steilvorlage für jeden neu- und altrechten Agitator!

Es ist eine absolut blödsinnige Vorstellung, der Begriff „politisch korrekt“ – ursprünglich von rassistischen antisemitischen Kreisen in den USA erfunden, um das Bemühen der Liberalen und Linken um einen nichtdiskriminierenden Diskurs und nichtdiskriminierendes Verhalten gegenüber religiösen oder ethnischen Minderheiten, Frauen und Schwulen zu desavouieren – könnte positiv benutzt werden von eben diesen Minderheiten, Frauen und Schwulen. Antisemitismus läßt sich nicht verbieten. Vorurteile, Animositäten und Affekte kann man nicht verbieten, man kann sie nur fördern oder abbauen. Verbieten kann man nur ihre öffentliche Äußerung. Dies fördert zumindest das permanente Auseinandertreten von öffentlich Gesagtem und privat Gedachtem. Das kann keine gute Strategie gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus sein.

Da kann ich nur mit Richard Chaim Schneider sagen:
„Ich will den Antisemiten sehen!“ (SZ, 25.02.05)

Hamas

Lange hat es gebraucht, bis die Hamas hier ernst genommen wurde. Häufig wird ihre ideologische und organsiatorische Quelle – die Muslimbruderschaft weiterhin unterschätzt und verharmlost. Dazu vgl. den Beitrag hier in shift. aus dem letzten Jahr.
Oft wird zwar über Hamas geschrieben, selten jedoch aus ihrer Gründungscharta (1989) zitiert. Diese gilt nach wie vor und ist die politische Plattform, die Sinn und Zweck der Hamas und die Mittel zu deren Erreichung klar definiert. Zur Interpretation der Charta und zur Analyse des Charakters der Hamas, sowie zur Geschichte der Muslimbrüder und der Entstehung des spezifischen islamischen Antisemitismus sei nach wie vor als erste Adresse die Website von Matthias Küntzel empfohlen.

Wie deutlich die Charta der Hamas über den einzigen Sinn der Hamas – nämlich den der Vernichtung Israels – spricht, davon kann man sich aus dem sonst merkwürdigerweise selten veröffentlichten Text hier auszugsweise überzeugen:

Charta der Hamas

Vorwort: Erniedrigung wurde den Juden verordnet … und der Zorn Allahs wird auf sie fallen … Elend überkommt sie, weil sie nicht an das Wort Allahs glauben und die Propheten grundlos töteten …“ (Sure el-Umran, 109-111). ‚Israel wird existieren und weiter existieren, bis es der Islam vertreibt, so wie der Islam die Vorgänger Israels vertrieben hat.‘ (Imam Hassan e-Banna) [Gründer der Muslimbruderschaft, LR]

Artikel 1: Die Islamische Widerstandsbewegung [Hamas] ist ein Flügel der Moslembruderschaft in Palästina. (…)

Artikel 6: Die Islamische Widerstandsbewegung [Hamas] ist eine rein palästinensische Bewegung, die Allah treu ist … und das Banner Allahs über jedem Zentimeter Palästinas hissen will. [Gemeint ist mit Palästina natürlich immer auch das Territorium Israels]

Artikel 7: Die Islamische Widerstandsbewegung [Hamas] ist ein Glied in der Kette des Heiligen Krieges gegen die zionistische Invasion … Allahs Bote sagte, es wird die Zeit kommen, wenn die Moslems gegen die Juden kämpfen und sie besiegen. Und die Juden werden sich hinter Steinen und Bäumen verbergen. Die Steine und Bäume sagen: Oh Moslems, Diener Allahs, kommt und tötet den Juden, der sich hinter mir verbirgt.

Artikel 8: Sinn und Zweck der Islamischen Widerstandsbewegung [Hamas] liegt in Allah. Sein Bote ist unser Vorbild, der Koran unsere Verfassung, der Heilige Krieg unser Weg, der Tod im Dienste Allahs unser höchstes Ziel.

Artikel 11: Für die Islamische Widerstandsbewegung [Hamas] ist Palästina islamisches Vermächtnis, den Moslems anvertraut bis zum Jüngsten Gericht. Weder das Ganze, noch ein Teil davon darf verlassen oder aufgegeben werden. (…)

Artikel 13: Die Preisgabe eines Teiles von Palästina ist wie die Preisgabe eines Teiles der Religion. … Für das palästinensische Problem gibt es keine Lösung außer dem Heiligen Krieg. Initiativen, Resolutionen und internationale Konferenzen sind nutzlose Zeitvergeudung.

Artikel 14: Palästina ist islamisches Land, dem sich die ersten Moslems beim Gebet zuwendeten, unter den heiligen Orten an dritter Stelle. … Deshalb ist seine Befreiung persönliche Pflicht eines jeden gläubigen Moslems.

Artikel 15: Gegen den Raub Palästinas durch die Juden gibt es nur eine Rettung: die Flagge des Heiligen Krieges hissen.“

Zit.n.: Schreiber, Friedrich, Aufstand der Palästinenser – die Intifada, Opladen 1990, S. 119f

Nachtrag am 9.2.06
Artikel 22: “Die Feinde [die Juden] haben lange Zeit Ränke geschmiedet … und riesigen, bedeutungsvollen, materiellen Reichtum angesammelt. Mit ihrem Reichtum haben sie weltweit die Kontrolle über die Medien übernommen, … mit ihrem Geld haben sie in verschiedenen Teilen der Welt Revolutionen gesteuert … Sie standen hinter der Französischen Revolution, der Russischen Revolution und den meisten anderen Revolutionen … Mit ihrem Geld bildeten sie geheime Organisationen, z. B. die Freimaurer, die Rotary Clubs und die Lions Clubs, welche über die ganze Welt ausgebreitet sind, um Gesellschaftssysteme zu zerstören und zionistische Interessen wahrzunehmen … Sie standen hinter dem I. Weltkrieg und bildeten den Völkerbund, mit welchem sie die Welt regierten. Sie standen hinter dem II. Weltkrieg, durch den sie riesige finanzielle Gewinne erzielten … Sie sind die Drahtzieher eines jeden irgendwo in der Welt geführten Krieges.“

Das ist nicht Antizionismus oder Widerstandskampf gegen israelische Unterdrückungspolitik, das ist Antisemitismus pur – und zwar von der übelsten, der eliminatorischen Sorte.

Simon Wiesenthal

Zum Tod des „Nazijägers“ Simon Wiesenthal gibt es angemessene Nekrologe in SZ und Taz. Die SZ betont vor allem, daß nicht Rache, sondern Recht das Leitmotiv für Wiesenthals einzigartige Dedektivarbeit war, die Taz zitiert sein Ziel: „Der einzige Wert meiner Arbeit ist es, die Mörder von morgen zu warnen“. Für dieses Ziel sowie für seine Recherche-Erfolge ist Simon Wiesenthal von vielen, denen daran gelegen war, daß die Naziverbrechen und vor allem die Verfolgung der Täter dem Vergessen anheimfallen sollten, geschmäht und angegriffen worden. In beiden Nachrufen wird Wiesenthals „Nicht Rache-sondern Recht“- Motto belegt mit dessen Haltung in der Waldheim-Affäre. Die SZ begründet die Feindschaft gegenüber Wiesenthal mit der Aufdeckung der Nazivergangenheit von Ministern im Kreisky-Kabinett und mit dem Kalten Krieg. Hier wäre – was aber in beiden Zeitungen fehlt – auch davon zu reden gewesen, daß die Errichtung und Konsolidierung der Bundesrepubliken Deutschland und Österreich auf einem Kompromiß mit den ehemaligen Nazi-Eliten in AA und Justiz sowie auf einem Arrangement mit dem fortdauernden antisemitischen Affekt in weiten Teilen der Bevölkerungen beruhte: So mußte das Simon-Wiesenthal-Zentrum häufig erleben, daß von ihm aufgespürte und überführte Täter von Polizei oder Gericht wieder ungestraft in die Freiheit entlassen wurden.
Befremdlich ist eine weitgehend unbekannte Animosität des beliebten Kinderbuchautors Janosch, der in seinem Kinderbuch „Hasenkinder sind nicht dumm“ die Figur des Hasen „Wiesenthal“ auftreten läßt, der nicht müde wird, die Hasenkinder vor dem Fuchs zu warnen. Der „Hase Wiesenthal“ ist dort aber eine lächerliche Figur, denn er ist nicht in der Lage, die Tarnungen des Fuchses zu durchschauen, den er immer nur an seinem „buschigen Schwanz“ erkennen kann. Merkwürdige und angesichts der Fahndungserfolge Wiesenthals unangebrachte Häme. Und wozu im Kinderbuch??
Spannend Auskunft über sein Lebenswerk und seine dedektivische Arbeit und ebenso über den Umgang der staatlichen Stellen mit seinen Erfolgen gibt Simon Wiesenthal selbst in seiner Autobiographie „Recht, nicht Rache“.

Linker Antisemitismus, Antiamerikanismus und der Antiimperialismus der dummen Kerls

Ratlosigkeit angesichts „Bushismus“ und „Sharonismus“ einer- und dem islamistischen Terrorismus andererseits befällt ( zum Glück noch) manchen Linken hierzulande. Wie einfach war es für die Linke vor bald vierzig Jahren, sich im Vietnamkrieg auf der „richtigen“ Seite zu positionieren: War doch der Vietcong nicht nur der Gegner des US-Imperialismus sondern stand gleichzeitig auch für eine progressive gesellschaftliche Umwälzung im eigenen Land. Von Letzterem kann jedoch weder in den palästinensischen Gebieten, noch im Irak oder im Iran die Rede sein. Ratlosigkeit ist schwer auszuhalten. Man möchte lieber „orientiert“ sein. Aber es ist (auch) für einen Linken allemal redlicher, seine Ratlosigkeit zu bemerken, als sich vorschnell in Ideologien und politische Positionen zu stürzen, die ein klares Freund-Feind-Bild wiederherzustellen versprechen. Leider ist „die Linke“ in der Regel noch zu gerne bereit, genau dafür die Dignität der Ratlosigkeit aufzugeben.
Wer sich aber seine Ratlosigkeit noch eingestehen kann, der findet eine bemerkenswerte Einschätzung bei Moishe Postone. In seinem kürzlich erschienenen Essayband „Deutschland, die Linke und der Holocaust“ findet sich neben seinem grundlegenden älteren Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“, in dem er die Ideologie des Antisemitismus analysiert, auch der Vortrag „Geschichte und Ohnmacht. Massenmobilisierung und aktuelle Formen des Antikapitalismus“. Postone argumentiert hier überzeugend dafür, „die Ausbreitung des Antisemitismus und antisemitischer Formen des Islamismus als Ausbreitung einer fetischisierten antikapitalistischen Ideologie zu begreifen, die von Israel und der israelischen Politik ausgelöst wird, aber auch, auf einer wesentlich grundlegenderen Ebene, vom Niedergang der arabischen Welt im Zuge der tiefgreifenden strukturellen Veränderungen, die der Übergang vom Fordismus in den neoliberalen Kapitalismus mit sich bringt“. Den Mainstream der linken Positionen hierzulande hält er für „eine populistische und zutiefst reaktionäre antihegemoniale Bewegung, die nicht zuletzt für jegliche Aussicht auf eine fortschrittliche Politik in der arabischen und muslimischen Welt eine Gefahr darstellt. Anstatt diese reaktionäre Form des Widerstands auf eine Weise zu analysieren, die fortschrittlicheren Formen des Widerstands Unterstützung bieten könnte, haben viele westliche Linke sie jedoch entweder ignoriert oder als zwar bedauerliche, doch verständliche Reaktion auf die israelische Politik im Gaza-Streifen und in der Westbank rationalisiert. Diese apologetische Einstellung weiter Teile der amerikanischen und europäischen Linken hängt eng mit der fetischistischen Identifikation der USA mit dem globalen Kapital zusammen. Diese Tendenz, das Abstrakte (die Herrschaft des Kapitals) als etwas Konkretes (amerikanische Hegemonie) zu fassen, ist (…) Ausdruck fundamentaler Hilflosigkeit auf begrifflicher wie politischer Ebene.“
Postone diagnostiziert der Linken ein „verdinglichtes Denken und Empfinden“, das von einer „Krise der Linken“ zeugt, „die vielschichtige Gründe hat – die Erkenntnis, dass die industrielle Arbeiterklasse kein revolutionäres Subjekt ist oder sein wird, das Ende der staatszentrierten Ordnung, mit der der Staat nicht länger entscheidender Adressat gesellschaftlicher Veränderung ist, und der Übergang von einer internationalen in eine supranationale Weltordnung.“
Interessant ist sein Ansatz zu einer Analyse der globalen Vorgänge auf politischer Ebene:
“ Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert forderte eine wachsende Zahl von Nationalstaaten, vor allem Deutschland, die hegemoniale Rolle Großbritanniens und der liberalen Weltordnung heraus. Diese Rivalitäten, die in zwei Weltkriegen kulminierten, bezeichnete man damals als imperialistische Rivalitäten. Möglicherweise erleben wir heute die Anfänge einer Rückkehr zu einer Ära imperialistischer Rivalität auf einer neuen und erweiterten Stufe. Einer der entstehenden Spannungsherde ist das Verhältnis zwischen den atlantischen Mächten und einem um die französisch-deutsche Allianz gruppierten Europa. (…) Was immer man gegen die gegenwärtige amerikanische Administration einwenden mag – und es lassen sich bei einer ganzen Bandbreite von Fragen schwerwiegende Einwände gegen sie formulieren – , die Linke sollte äußerst vorsichtig sein, nicht unfreiwillig zum Strohmann eines rivalisierenden potenziellen Gegenhegemons zu werden.“

Nahostkonflikt und Antisemitismus

Einen lehrreichen, klug geführten Disput gibt es in Form eines offenen Briefwechsels zwischen Robert Wistrich (Jerusalem) und Brian Klug (Oxford und Chicago).
Es geht vor allem um zwei zentrale Fragen, zu denen die Autoren ihre Differenzen mit jeweils bedenkenswerten Argumenten entfalten: 1. Gibt es einen arabischen Antisemitismus? 2. Unter welchen Voraussetzungen ist „Israelkritik“ antisemitisch? Viel ist schon geschwätzt worden zu diesen Fragen. Dieser Text hebt sich wohltuend ab vom Geschwätz.

Naivität?

In der SZ heute schreibt Tomas Avenarius über die Muslimbrüder (S.2). Merkwürdig: Ich kenne sie aus ihren Dokumenten und ihrer Geschichte als älteste und einflußreichste islamistische, antisemitische Organisation. Von ihrer antisemitischen Programmatik und Geschichte erfährt man bei Avenarius gar nichts. Der Begriff kommt einfach gar nicht vor. Zwar sei sie die Mutterorganisation auch der Hamas, diese sei jedoch nur „in den Augen der Amerikaner und Israelis eine Terrorgruppe“. Aha. In den Augen Avenarius ist sie was? Das bleibt offen, aber zu denken nahegelegt wird der Gegenbegriff Freiheitskämpfer. Die harmlosen Muslimbrüder jedenfalls sind, das läßt er eine „deutsche Expertin Ives Lübben“ feststellen, “ eine ‚bürgerliche, konservative und sozial engagierte Kraft‘ ohne revolutionäres Potenzial.“ Sie werden in Avenarius‘ Artikel geführt als demokratische Opposition, unterdrückt vom Mubarak-Regime. „Schwer auszumachen“ sei, so A.,“wo die Muslimbrüder ideologisch wirklich stehen.“ Für mich ist es nicht schwer auszumachen. Der geistige Führer dieser „Bruderschaft“, Sayyid Qutb, hat mit seinem Pamphlet „Unser Kampf gegen die Juden“ 1951 eine Art Manifest der Muslimbrüder geschrieben. In immer neuen Auflagen findet diese Schrift in allen Ländern des arabischen Nahen Ostens große Verbreitung. Naja, Herr Avenarius muß ja nicht alles kennen, worüber er schreibt…