Kritisch Denken Lernen für Alle – Kern der Literacy von heute und morgen

1. Wie es mir erging

Als ich mit einem ordentlichen Abiturzeugnis versehen 1973 an der FU Berlin mein Geschichts- und Politologie-Studium aufnahm, hatte ich wenig Ahnung vom Denken und noch weniger vom Lernen. Aber ich wusste nichts davon. Ich merkte es erst, als ich nach einigen Semestern eine Zwischenprüfung ablegen musste, die ich nur ganz knapp bestand. Der Vorsitzende des Prüfungstriumvirats – ein Mediävist alter Schule – musterte mich mit seinen Basedow-Augen und gab mir folgenden Rat: „So schlecht sehen Sie doch gar nicht aus. Es braucht doch nicht jede Frau studieren. Heiraten ist doch auch noch eine Möglichkeit“. Da wusste ich, irgendetwas war schrecklich schief gelaufen. Denn in der Schule hatte man mir bescheinigt, ich wäre zwar vorlaut aber intelligent, und heiraten wollte ich auf gar keinen Fall.

Ich wusste nicht, wie man eine wissenschaftliche Monographie liest (denn es gab im Denkunterricht Deutsch nur „Ganzschriften“ der deutschen Literatur) und gedanklich verarbeitet (denn wir lernten nur „durchlesen“ und dann auf die mehr oder weniger überraschenden Fragen des Lehrers zufriedenstellend oder nicht zu antworten). Ich konnte keine eigenen Fragen zu einem nicht selbstgewählten Gegenstand stellen und kannte keine einzige Methode, wie ich „den Inhalt“ eines Sach-Buches oder eines wissenschaftlichen Aufsatzes verstehen, geschweige denn (im Gedächtnis) „behalten“ konnte. Ich hatte keine bewussten Auswahlkriterien und Strategien zur Unterscheidung von wichtigen und unwichtigen Aussagen, ich hatte keine rationalen Methoden des Denkens. Ich konnte nur assoziativ und intuitiv – also „wild“ und unkontrolliert denken. Denken war eher etwas, was einem widerfuhr, als etwas selbst kontrolliert Geführtes. Niemals bin ich in meinen Bildungsinstitutionen auf irgendjemanden getroffen, der, systematisch oder nicht, auf jeden Fall explizit gemacht hätte, wie vernunftgeleitetes Denken geht.

Das einzige, was ich aus dem Deutschunterricht wusste: Man brauchte eine Gliederung für den Aufsatz. Die Ausführung der „Erörterung“ schrieb man dann entlang dieser irgendwie zusammengekloppten Gliederung (Einleitung, Durchführung, Schluss) aus dem hohlen Bauch jugendlicher Alltagserfahrung. Deutschaufsatz war bei den meisten Schülern meiner Klasse verhasst. Vor allem wegen der geforderten Gliederung. Niemand kam damals auf die Idee, dass die Abneigung daher rührte, dass uns weder der Sinn einer (vorher!) gedachten Gliederung klar war, noch dass wir Denkmethoden gekannt hätten, wie man sich eine Gliederung zum freundlichen Denkinstrument hätte machen können.

Spät, erst anlässlich des Staatsexamens, entdeckte ich einige Methoden des rationalen Denkens (als Operationsform des kognitiven Verstehens) und „erfand“ dafür meine eigenen Werkzeuge. Die Hauptmethode war ganz einfach aber mühsam: Wenn du einen Text (damals meist ein ganzes Buch, aber kein Lehrbuch, sondern Monographie) nicht verstehst, lies ihn fertig und sofort danach einen zweiten Text zum gleichen oder ähnlichen Gegenstand. Und dann bald einen dritten, vierten, fünften, sechsten. Ab dem dritten Buch begann ich mich daran zu freuen, dass ich immer mehr Muster erkennen konnte, und ab dem vierten begann ich eine Art Lesesucht zu entwickeln, um diese Freude auf Dauer zu stellen.
Meine Werkzeug-Erfindung bestand darin, riesige Matrizen und Übersichten darüber zu verfassen, was in den Büchern an gleichen, was an verschiedenen Aussagen zum gleichen Thema getroffen, und wie die Unterschiede begründet worden waren. Die Concept-Map (ein moderneres Instrument) war noch nicht erfunden.

Vorderseite einer meiner Matrizen (hier zum Thema Faschismustheorien):

matrixDamit hatte ich immerhin gelernt, was ich äußerlich tun konnte, um eine Menge an wissenschaftlichem Stoff zu verstehen und zu „behalten“.

Gewiss bin ich nicht die einzige, die einen Großteil ihres Lebens dafür gebraucht hat, etwas so Grundlegendes wie vernünftig denken zu lernen, was zu meiner Schul-und Studienzeit entweder als angeboren vorausgesetzt oder vor denen, denen es nicht „in die Wiege gelegt“ war, offensichtlich geheim gehalten wurde. Und vermutlich haben es andere viel schneller doch noch (selbst) entdeckt und schon viel früher im Leben gekonnt als ich. Aber eines scheint mir heute sicher:

2. Jeder Einzelne und die Menschheit als Ganzes braucht diese Fähigkeit zu kritischem Denken in hohem Ausmaß

Denn um die komplizierten Probleme – meiner Meinung nach vor allem gesellschaftlicher Art – lösen zu können, ist nicht nur mehr Zusammenarbeit, sondern außerdem die Zusammenarbeit vernünftig(er) denkender Menschen nötig. Mehr Menschen als bisher, möglichst alle, müssen kritisch denken lernen. Und sie müssen verstehen, dieses Denken überall – nicht nur auf einer Forschungsstelle im Labor – anzuwenden.

Dies zu erreichen, darf es nicht mehr dem Zufall eines guten Tutors oder der „bildungsbürgerlichen“ Herkunft überlassen werden. Es muss – wie einst die primäre Literacy zur Überwindung des allgemeinen Analphabetismus – systematisch explizit und zugleich problemorientiert implizit in der Schule erworben werden. Mit dem Anspruch, dass Alle es lernen. (Ebenso wie es trotz des Anspruchs auf eine allgemeine primäre Literacy und trotz der allgemeinbildenden Pflichtschule immer noch (zu viele) Analphabeten gibt, wird auch dieser Anspruch nicht vollständig einlösbar sein. Aber der Anspruch bekräftigt die Auffassung, dass es im Prinzip jeder Mensch lernen kann, und er enthält das Recht darauf, es auch lernen zu dürfen.)
Kritisch Denken ist das Hauptelement der Literacy des digitalen Zeitalters.
Breitbartismus, Rechtsextremismus, Salafismus und andere Strömungen fundamentalistischen Irrationalismus, Neo-Nationalismus etc. belegen die Dringlichkeit, diese Literacy endlich zu organisieren, ebenso, wie der Klimawandel und der drohende Kollaps der globalen Naturumwelt. Selbst eine Zeitung wie „Die Welt“ findet:

„Aber die Notwendigkeit kritischen Denkens war noch nie zuvor so groß wie im Zeitalter des Internets. Zumindest in den entwickelten Ländern – aber auch zunehmend in Entwicklungsländern – besteht das Problem nicht mehr darin, Zugang zu Informationen zu bekommen, sondern in der mangelnden Fähigkeit dazu, diese Informationen zu verarbeiten und Sinn daraus zu ziehen.

Unglücklicherweise bieten weder Grundschulen, noch Gymnasien oder Universitäten Einführungskurse in kritisches Denken an. Die Schulbildung hat sich mehr und mehr zu einer Handelsware entwickelt, wo die „Kunden“ (früher Schüler und Studenten) durch personalisierte Lehrpläne zufriedengestellt und auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden (statt zu verantwortlichen menschlichen Wesen und Bürgern erzogen zu werden).“
Massimo Pigliucci
in der Welt, 23.04. 2011


3. Warum hat abstrakt-theoretisches Denken einen so schlechten Ruf?

Der Vorwurf gegen Abstraktion und Theorie wird vor allem von denen erhoben, die keine Berufs-Theoretiker sind, sondern in Berufen arbeiten, in denen in erster Linie konkret-praktische Entscheidungen getroffen werden müssen, und das unter Alltags-Zeitdruck und unter Bedingungen, in denen ständig Knüppel zwischen die Beine springen.  Das Überlebensprinzip heißt in diesen komplexen Lagen, sich irgendwie „durchzuwurschteln“. Der genervte Ausruf „das ist mir zu abstrakt!“ ist keineswegs ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit, Abstraktionen zu verstehen, sondern meist als Abwertung gemeint im Sinne der (angeblichen) Unbrauchbarkeit abstrakt-theoretischer Aussagen zur Lösung von Alltagsproblemen.
Es ist allerdings sehr schade – vor allem für die Praktiker selbst – , wenn sie unter Theorie kein Erkenntnis-Instrument verstehen können, das also auch zur Sammlung von Erkenntnissen über Wesen und Ursachen eben ihrer Praxisprobleme dienen könnte. Der allgemeine Alltagsbegriff von Theorie ist irreführend. Er versteht unter Theorie eine normative, Wolkenkuckucksheim-Erfindung zukünftiger Wunschwelten, nicht Beschreibung und Erklärung der bestehenden Realität. Diese so verstandene und dann geforderte „bessere Realität“ wird von den „Praktikern“ zurecht als  im konkreten Alltag der Praxis nicht hilfreich erlebt, und es wird ihr vorgeworfen „am grünen Tisch“ und ohne Kenntnis der realen Praxis erfunden zu sein.

Diese Vorwürfe sind allerdings sehr verständlich, und zwar deshalb, weil es so viel schlechte Theorie, Pseudo-Theorie und Anweisungen in Form von politischen Papieren gibt, die als „theoretisch“ gelten und tatsächlich normativ bessere Welten herbeireden oder gar anordnen wollen, womit sie diesen irreführenden Theorie-Begriff ständig nähren und reproduzieren. Merkwürdigerweise gilt er nicht für die Naturwissenschaften. Für naturwissenschaftliche Phänomene ist auch der Allgemeinheit inzwischen bekannt, dass es ohne (gute) Theorie keine Erkenntnisse über Naturgesetze und auch keine technologische Entwicklung gibt. Gute Theorie ist etwas Feines. Und das gilt  auch für gesellschaftswissenschaftliche Theorie. Gute Theorie erklärt gerade in Kenntnis der Praxis, warum diese ist, wie sie ist, wie sie geworden ist, und wo und wie sie veränderbar wäre. Ohne ein abstrakt-theoretisches Verständnis der Praxis wäre überhaupt keine dauerhafte und tiefgreifende absichtsvolle Veränderung der Praxis möglich. Die Möglichkeit und die Fähigkeit zu abstraktem Denken ist eine wichtige Bedingung der Menschheitsgeschichte. Und zugleich deren Ergebnis in Form immer höherer Abstraktionsfähigkeit. Code ist z.B. ein Ergebnis dieser Abstraktionsfähigkeit.

4. Was bedeutet kritisch Denken?

a) Was bedeutet kritisch in diesem Zusammenhang?
Unter Kritisieren wird im Alltag häufig „heruntermachen“, „schlecht machen“, „rumnörgeln“ verstanden. Und dann wird alle Kritik abgewehrt, weil sie ja eh nur vom Handeln abhält. „Machen statt Quatschen“ heißt die Devise. Und: „Bedenkenträger raus!“.
Kritisieren, wie es hier verstanden werden soll, heißt aber weder „schlecht machen“ noch vom Handeln abhalten. Es stammt vom griechischen krinein = unterscheiden ab. Unterscheiden ist der Ausgangspunkt der Analyse. Auch ein „kritischer Zustand“, in dem etwas auf der Kippe steht, also fraglich ist, ob es in diese oder jene Richtung fallen wird, hängt an dem Begriff der Unterscheidung. Und ebenso ein „kritischer Faktor“, mit dem ein Element gemeint ist, auf das es für das Funktionieren des Ganzen entscheidend ankommt.

b) was ist Denken
Wir denken immer, selbst wenn wir schlafen. Denken ist die Betriebsform des Bewusstseins. Auch im Schlaf sind wir nicht bewusstlos. Es gibt jedoch verschiedene Denkformen. Andere Denkformen als das rationale (kritische, systematische, wissenschaftliche, abstrahierende, argumentierende) Denken sind z.B. assoziatives Denken, intuitives Denken, Träumen. Der Hauptunterschied zwischen der einen und den anderen Denkform besteht vor allem in der Regelhaftigkeit, mit der das rationale Denken sich selbst kontrolliert. Die Entwicklung der Prinzipien, Methoden und Prozeduren dieses Denkens und deren konkrete Anwendung sind ein Teil der Philosophie-Geschichte. Denken ist nicht nur die Arbeitsweise, sondern auch ein wissenschaftlicher Gegenstand der Philosophie. Das Denken – sowohl im Sinne der Tätigkeit als auch im Sinne der Ergebnisse – hat sich koevolutionär mit der Menschheitsgeschichte als Ganzer entwickelt.

Das assoziative und intuitive Denken wird auch für Erfindungen und Innovationen (auch in der Theoriebildung) gebraucht. Die Betonung liegt auf „auch“. Intuitives Denken drückt sich ganz besonders in der Kunst aus, während das kritische Denken Haupt-Bedingung und gleichzeitig Produkt von Wissenschaft ist. Auch die Künste werden gebraucht zur Welterkenntnis. Beide Welterkenntnis-Modi enthalten ihre spezifischen Formen und Momente der Kreativität. Kreativität ist nicht identisch mit Kunst oder mit Intuition. Und Wissenschaft ist nicht das Gegenteil von Kreativität.

c) Kritisches Denken
Manchmal wird kritisches Denken mit der „kritischen Theorie“ verwechselt. Diese ist jedoch eine spezielle Gesellschaftstheorie („Frankfurter Schule“, Adorno, Horkheimer und Nachfolgegenerationen), die sich „kritisch“ nennt in Abgrenzung von der von ihr so verstandenen herrschenden apologetischen Philosophie, Gesellschaftstheorie und Psychologie der Gegenwart. Diese Theorie ist sozusagen ein Spezialfall, ein Ergebnis eines kritischen Denkprozesses (besser gesagt, vieler Denkprozesse vieler Denker). Aber sie ist hier nicht mit „kritischem Denken“ gemeint.

5. Das „Fachliche“ und das „Überfachliche“ – Das Besondere und das Allgemeine

„Kritisches Denken“ bedeutet analysieren, hinterfragen, überprüfen. Es ist Voraussetzung für kognitive nachvollziehende oder kreative Denkleistungen. Es ist gebunden an komplexe im Laufe der Denkgeschichte entwickelten „Regelwerke“ (= Methodologien), bestehend aus Prinzipien, modellierenden Vorstellungen, Methoden und Prozeduren. Es gibt sowohl fachspezifische Regelwerke, als auch überfachliche. Die fachspezifischen Methodologien – wollen sie wissenschaftlich haltbar sein – konkretisieren die generell gültigen Regeln allgemeiner Wissenschaftlichkeit für ihre Fachwissenschaft. Sie dürfen jenen nicht widersprechen. So unterliegen z.B. alle fachspezifischen Regelwerke gleichermaßen der Forderung nach dem Prinzip der Logik und der Kohärenz. Ein Erklärungszusammenhang, der unlogisch ist oder Brüche aufweist, ist nicht wissenschaftlich überzeugend. Prozeduren müssen Methoden umsetzen, Methoden Prinzipien folgen. Die Übereinstimmung aller drei Ebenen ist z.B. auch eine wissenschaftliche Anforderung an ein Regelwerk.

Alle Einzelwissenschaften (Fächer, Domänen) haben also ihre eigenen spezifischen Regelwerke – und daraus folgend jeder Fachunterricht eigene fachdidaktische Prinzipien, Prozeduren, Methoden. Wenn man jedoch die Einzelwissenschaft (oder die Fachdidaktik) von ihrem Zusammenhang mit den Prinzipien, Methoden, Prozeduren allgemeiner Wissenschaftlichkeit (oder allgemeindidaktischer, und darüber hinaus lernpsychologischer Methodologien und lerntheoretischer Erklärungsrahmen) isoliert und die aus deren Anwendung resultierenden Erkenntnisse ignoriert, dann hat man ein gutes Rezept für Unwissenschaftlichkeit.
Jede Einzelwissenschaft ist in weitere allgemeinere wissenschaftliche Rahmen eingebettet und muss mit ihren spezifischen Konkretionen zu den allgemeineren Rahmen widerspruchsfrei passen.

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6. Nichtwissenschaftliche Wissenschaftler und wissenschaftliche Nichtwissenschaftler

Im angloamerikanischen Verständnis ist mit Kritischem Denken ein am wissenschaftlichen Denken orientiertes Denken von „Laien“ gemeint.  Was aber sind Laien? Wissenschaftliche Laien sind nicht wissenschaftlich arbeitende Menschen. Ich halte das für ein Problem, weil es das wissenschaftliche Denken an einen Arbeitsplatz in den Institutionen der Wissenschaft (oft noch verkürzt auf Forschung, und diese wieder verkürzt auf Empirie) bindet. Tatsächlich gibt es dort jedoch Wissenschaftler, die zwar in ihrem Labor wissenschaftlich denken (dem Regelwerk folgen). Wenn sie jedoch abends den Laborkittel ausziehen, streifen sie mit ihm zusammen den Modus des Wissenschaftlers ab und werden zu Nichtwissenschaftlern, indem sie nun dem Alltag mit seinen Alltags-Verständnissen von Welt folgen. So gibt es durchaus den Biologen, der genau weiß, dass Moleküle die kleinsten Einheiten eines chemischen Stoffs sind, der jedoch seinem Kind im Krankheitsfall homöopathische Mittel gibt, in denen kein einziges Molekül der therapeutischen Substanz enthalten ist. Oder den Astrophysiker, der gleichzeitig Mitglied einer religiösen Sekte ist. Und viele andere, die z.B. glauben, „Lernen lernen anleiten“ könnte jeder, der mal selbst Schüler gewesen ist. Auf der anderen Seite gibt es leider die Tendenz bei Lehrern, darauf zu bestehen, dass sie keine Wissenschaftler seien. Also auch nicht wissenschaftlich über ihren Gegenstand (das Lehren) denken müssen? Wie stattdessen?

Umgekehrt gibt es „Laien“, die keine Stelle an einer wissenschaftlichen Institution innehaben, die jedoch wissenschaftlich denken können und jedes Problem – auch ein Alltagsproblem unter wissenschaftlichen Prinzipien betrachten und ihre Entscheidungen danach ausrichten. Welcher Typus von beiden ist ein Wissenschaftler?

Kritisch Denken bedeutet aber auch nicht, immer eine skeptische Haltung einzunehmen – wiewohl die Skepsis eine wichtige wissenschaftliche Haltung ist. Es ist nicht identisch mit der grundsätzlichen und immerwährenden Infragestellung eigener oder fremder Aussagen, bevor nicht eine sogenannte „Studie“ den vermeintlichen Beleg zur Aussage hergezaubert hat.
Kritisch Denken wächst auf der Haltung, ernsthaft herausfinden zu wollen, wie etwas ist, warum es so (geworden) ist, ob es so bleiben muss und wie man es ändern könnte. Jeder hat seine eigenen Vorannahmen (Erklärungsprinzipien) und Prozeduren als Denk-Routinen im Alltag (Heuristiken), die er normalerweise nicht mehr hinterfragt. Es geht gar nicht anders, sonst wäre er handlungsunfähig. Wer aber wirklich etwas verstehen möchte – nämlich insbesondere dann, wenn etwas nicht (mehr) so funktioniert, wie es soll – und gar etwas ändern möchte, ist gut beraten, die eigenen Vorannahmen explizit zu kennen und sie gegebenenfalls infragezustellen um sie womöglich über Bord zu werfen und durch andere zu ersetzen. Manchmal liegt das Problem nämlich nicht an diesem oder jenem Faktor in der Praxis selbst, sondern am bisher nicht hinterfragten Verständnis des gesamten Zusammenhangs. Wer nicht weiß, dass sich Dinge manchmal sinnvoller mit anderen als den gewohnten Vorannahmen erklären lassen, der wird womöglich mit seinen Veränderungs-Strategien und –Aktionen immer an derselben Stelle auf die Nase fallen und noch nicht einmal erfahren, warum.

Kritisches Denken ist die schnellste (rationale) Möglichkeit jeder Mustererkennung (das Entdecken von Gesetzmäßigkeiten). Wer stattdessen nur die langwierige trial-and-error-Methode oder das Learning-by-doing als Strategie zur Verfügung hat, wird in vielen Fällen nicht nur langsam, sondern überhaupt nicht zum Ziel kommen.
Deswegen hat nicht nur die Gesellschaft (und Menschheit) ein Interesse an der Methodologie des kritischen Denkens (es gibt einen Zeitdruck von außen), sondern auch jede(r) Einzelne. Es steht ihm/ihr zu, dieses Denken zu lernen, er/sie hat ein Recht darauf. Es ist eine der höchsten Kulturleistungen, an der Alle teilhaben müssen/dürfen/können.

7. Wie bekommen wir es?

a) Fokus auf Prozess statt auf Ergebnis
Wissenschaftliches (kritisches, rationales) Denken lernt man nicht, indem man bloß die Ergebnisse dieses Denkens kennen lernt. Die Ergebnisse hängen zwar an den Prozessen, aber da die Prozesse die Ergebnisse nicht determinieren, kann man von den Ergebnissen auch nicht direkt auf die Prozesse schließen, die zu ihnen geführt haben. Eine Ergebnis-betonte Lehre/Unterricht/Bildung hat es außerdem schwer, das eigene Denken der Studenten/Schüler/Kinder zu entwickeln. Man bekommt das Kritische Denken nur, indem man es übt. Üben heißt Ausüben. Der Fokus muss also mehr auf dem Prozess denn auf dem Ergebnis liegen. Schnell wird gesagt: Man kann den Prozess nicht vom Ergebnis trennen. Aber da liegt ein Missverständnis vor. Denn das heißt nicht, dass sie identisch sind. Und man kann, man muss sie sogar trennen – auf eine bestimmte Art und Weise. Dass Prozesse zu Ergebnissen führen, die – externalisiert, geteilt und diskutiert – wieder neue Prozesse in Gang setzen müssen, ist die Spirale des Denkens. Dass es keine Prozesse ohne – wie immer geartete – Resultate gibt, bedeutet jedoch nicht, dass mit den Ergebnissen auch die Prozesse verstanden oder gekonnt sind. Um die Prozesse des Denkens üben, sie ausüben zu lernen, muss also mehr Zeit und Wissen über diese Prozesse (und erst danach auch das didaktische Know-How) im und für den Unterricht bereitgestellt werden als für die Kenntnisnahme der Ergebnisse und deren Abfrage in Prüfungen. Im Mathematik-Unterricht gilt das schon seit je: Man muss etwas vorrechnen, eine Prozedur anwenden, nicht ein Ergebnis nennen können. Dasselbe gilt für den Erwerb der Fähigkeit des sprachlichen Denkens.

Aber selbst, wenn wir den Fokus aufs „Ausüben“ der Prozeduren, auf den Prozess, statt bloß auf die Ergebnisse legen, lauern noch eine Menge Schwierigkeiten und Stolpersteine:

Wie oben erläutert, erschöpft sich das Denken nicht im Ausüben bzw. Anwenden von Prozeduren. Prozeduren sind nur die unterste Stufe, die instrumentelle Seite des Denkens. Sie sind noch keine Methode. Und darüber gibt es noch die Prinzipien, die verstanden werden müssen, sowohl die fachspezifischen als auch die überfachlichen.

b) Ein weiteres Missverständnis liegt in der Verwechslung von äußeren und inneren Tätigkeiten /Handlungen/Operationen.
Die inneren sind ja die „eigentlichen“ Denktätigkeiten. Zwar braucht man äußere Tätigkeiten mittels Werkzeugen, um die inneren zu lernen. So wie man z.B. lesen lernt, indem man anfangs laut liest und den Finger unter der Zeile mitführt, später nur noch stumm die Lippen mitbewegt, um schließlich nur noch innerlich zu lesen (der berühmte Interiorisierungs-Vorgang, der äußere Handlungen zu inneren werden lässt). Jedoch sind diese äußeren Handlungen mit dem Finger, der dem Auge folgt und den Lippen, die laut denText aussprechen eben nicht die inneren Handlungen, auch wenn sie Entsprechungen aufweisen und mittels der äußeren gelernt werden. (Beim Lesen: das Zusammendenken der Buchstaben in Silben entspricht dem Finger, der sie zusammen“hält“.) Die inneren Prozesse können wir nicht sehen (auch nicht in noch so vielen Hirnscans, in denen wir ausschließlich die materiellen Entsprechungen der mit ihnen verbundenen Organtätigkeit feststellen können, im Sinne von; „Da tut sich was“.) Deswegen halten sich so viele Kompetenzformulierungen ausschließlich an die äußeren Handlungen – in der irrigen Hoffnung, dass damit die inneren Vorgänge schon beschrieben wären und automatisch durch die Ausführung der äußeren auch gelingen würden. Nicht nur, dass die Hoffnung nicht ausreicht fürs Gelingen. Die so entstandene Kompetenzformulierung führt, gerade wenn es um kognitive Fähigkeiten gehen soll, oft zu Miss-Formulierungen. Denn diese müssten ja v.a. die inneren Tätigkeiten benennen. Durch die falsche Ineinssetzung der beiden Tätigkeitsformen wird aber die Übertragung von außen nach innen als kritischer (= entscheidender) Moment des Lernens überhaupt nicht beachtet. Und: Durch die Abtrennung von den inneren (eigentlich angezielten) Handlungen, gerät oft die Arbeit mit dem äußeren Instrument (z.B. das mühsam handgezeichnete Klimadiagramm) unversehens zur „eigentlichen“ Hauptsache. Es ist ja auch einfacher. Die Schüler tun etwas mit den Händen, man sieht Ergebnisse und es ist leise in der Klasse. Nachträglich wird dann überlegt und begründet, welche Kompetenzen daran wohl gelernt wurden. Es stellt sich jedoch die Frage ein, ob man, wenn man Klimadaten feinsäuberlich mit dem Bleistift in eine Säulengrafik übertragen lässt, vielleicht für das eigentliche Lernziel, den Klimawandel und seine gesellschaftlichen Implikationen zu verstehen, gar nicht mehr genügend Unterrichtszeit für die benötigten ausführlichen Gespräche zur Verfügung hat? Was genau sollte nochmal gelernt werden?

c) Ein weiteres Problem ist fehlende Metakognition:
Immer werden beim Lernen eines Gegenstands implizit Prozeduren, Methoden und Prinzipien quasi nebenbei „unter der Hand“ mitgelernt. Wenn sie übertragbar auf neue Gegenstände sein sollen, müssen sie jedoch explizit gemacht werden, das heißt, es muss über sie gesprochen werden, sie müssen kognitiv verstanden, ihre Bedeutung, ihre Reichweite, ihre Grenzen geklärt werden (Metakognition). Das gilt für alle Lerngenstände in allen Fächern. (Auch der Sportlehrer macht Regeln und Abläufe im klärenden Gespräch nach dem Spiel deutlich). Aber ganz besonders für das Denken Lernen als die bewusste Tätigkeit schlechthin verstanden, ist es – im Gegensatz zum Laufen und Muttersprache-Erwerb und in der Regel auch dem Lesen Lernen – eben nicht ausreichend, diesen Vorgang implizit, also unbewusst nebenher ablaufen zu lassen. Das erklärt sich schon allein aus der Definition des kritischen Denkens als einem bewusst kontrollierten Prozess. Im Gegenteil: Die Bewusstmachung der Denktätigkeit, ihren Handlungen und Operationen ist das A und O fürs Denken und erst Recht fürs denken Lernen.

Wenn wir aber über die Prozeduren, Methoden, Prinzipien des Denkens (nicht nur über ihre äußerlichen instrumentellen Tätigkeiten, z.B. eine Mindmap herzustellen) nicht sprechen, bleiben sie implizit, d.h. sie bleiben haften an dem besonderen Gegenstand, mit dem sie gelernt wurden, sind wahrscheinlich nicht übertragbar, und wahrscheinlich nicht bewusst geworden. (Ich sage wahrscheinlich, weil es immer einzelne Schüler gibt, denen die Bewusstmachung trotzdem eigenständig gelingt.)

Und darüber hinaus: Wir müssen diesen Transfer von einem Gegenstand auf einen anderen bewusst organisieren. D.h. wir müssen ihn vom ursprünglichen Gegenstand loslösen, de-kontextualisieren – d.i. abstrahieren – und in einem nächsten Schritt re-kontextualisieren in einem neuen Kontext. Diesen Vorgang bewusst zu machen, die genaue Klärung dessen, was verallgemeinerbar ist und was demgegenüber kontextspezifisch ist, das ist z.B. eine Denkhandlung, die explizit zu lernen und deren Lernen zu organisieren ist. Dabei ist nicht einfach das Ergebnis einer sogenannten Transferleistung als „richtig“ oder „falsch“ zu benennen, sondern z.B. mit einem Visualisierungs-Tool der Vorgang, das Spezifische vom Generellen zu unterscheiden, zu üben und die Probleme dabei zu thematisieren. Denn: Man kann ja gar nicht wissen, was spezifisch konkret, was allgemein gültig ist, wenn man bisher nur eine einzige Konkretion kennt. Beispielsweise ist es nicht ohne weiteres möglich aus dem Wissen, dass die Sonne nur scheinbar „auf- und untergeht“, obwohl es doch „zu sehen ist“, das Abstractum zu lernen, dass Dinge oft nicht sind, was sie zu sein scheinen (oder dass deren Wesen nicht mit der Erscheinung zusammenfällt), und schon gar nicht als „Handlungswissen“ bereit zu haben, um es auf eigene Verwechslungen von Wesen und Erscheinung anzuwenden. Es muss ausgesprochen werden, an anderen, eigenen Beispielen wiedergefunden und wiederholt neu thematisiert werden, bis daraus eine Art Routine-Übung entsteht, grundsätzlich „hinter dem Sichtbaren“ etwas Unsichtbares zu erwarten, das die Erklärung der Sache enthält und wider den „gesunden Menschenverstand“ funktioniert, und bewusst nach ihr zu suchen. Und dass das nichts Mystisches, Transzendentales, Glaubensmäßiges ist, sondern im Gegenteil: Wissenschaft.
Was man (angelehnt an Karl Valentin) sehen kann: Denken ist schön, macht aber auch viel Arbeit.

Ein Versuch, ein paar Beispiele für gedanklichen Operationen, dazu passende Instrumente bzw. äußere Operationen sowie Kompetenzen (oder Fähigkeiten) fürs kritische Denken zusammenstellen:

Die Liste ist nur eine Beispielliste. Und auch sonst auf jeden Fall Beta. Ich habe versucht, einige allgemeine Prinzipien wissenschaftlichen Denkens zu erfassen. Alle Fächer, die mit sprachlichem (nicht mathematischem, und nicht künstlerischem Denken) zu tun haben, müssten sich hier widerfinden können. Nicht nur Philosophie und Gesellschaftswissenschaften, sondern auch Sprachen und Naturwissenschaften sollten damit etwas anfangen können. Die Künste in ihrer reflexiven, kulturwissenschaftlichen Seite, ebenfalls.

Wichtig ist, dass das Fortschreiten in dieser Liste der Operationen bzw. Handlungen/Tätigkeiten vom Einfachen zum Komplexen keine leiterartige, akkumulierend aufbauende Kompetenzstufigkeit bedeutet. Ich kann den untersten Eintrag auch mit kleinen Kindern machen, denn die Bildung von eigenen Erklärungszusammenhängen findet in ihren Köpfen sowieso von Anfang an statt. Warum also nicht darüber sprechen? Und ebenso brauche ich die ganz einfachen Operationen immer auch, oder muss, wenn es schwierig wird, zu ihnen zurück in meinem eigenen Denkprozess, auch wenn ich äußerst komplexe Sachverhalte in den Griff bekommen möchte. Viele Operationen sind schon mit Kindern im Kindergartenalter möglich – der Gegenstand, der bedacht wird, ist nur jeweils an die Altersstufe anzupassen. Und: Man darf nicht die Möglichkeit, „die richtige“ Antwort, „das richtige“ Ergebnis zu erhalten, als Voraussetzung für die Bearbeitung dieser Fragen verstehen.
Der erste Eintrag der Begründung einer eigenen Aussage mit der Frage  „Wie kommst du darauf?“ ist direkt aus einem Beispiel-Unterricht in einem Kindergarten dem Buch „Making Thinking Visible“ entnommen, das ich sehr empfehlen kann.
Weitere Bücher und digitale Ressourcen zur Didaktik des „Critical Thinking“ gibt es auf der Seite http://criticalthinking.org
Auf Deutsch gibt es bislang wenig Eigenständiges und Vergleichbares. Und Einzig „Tools and Concepts of Critical Thinking“ hat bisher den Weg in eine deutsche Übersetzung geschafft.

8. Forderungen für Schule und Unterricht

Die Schulreform der späten 60er/frühen 70er Jahre (nach dem Sputnik-Schock) hatte eine Reform der Sek II des Gymnasiums gebracht, die die „Studierfähigkeit“ des akademischen Nachwuchses sichern sollte (damit es ihm nicht so erginge wie mir), aber vor allem natürlich die „Wettbewerbsfähigkeit“ der deutschen Naturwissenschaft und Technik. Das, was seitdem in den beiden Jahren vor dem Abitur gemacht wird, folgt einem so genannten „Wissenschafts-Propädeutikum“, einer auf Wissenschaftlichkeit vorbereitenden Bildung/Erziehung. Ein bisschen spät vielleicht. Und kann man tatsächlich als Pädagoge sinnvoll eine solche Stufung vertreten: unwissenschaftlich (Sek I) – wissenschaftspropädeutisch (Sek II) – wissenschaftlich (Hochschule)? Und dann also auch nur für diejenigen, die es überhaupt über die 10. Klasse hinaus geschafft haben. Aber weder der späte Einstieg in rationales Denkenlernen, noch die Reduktion auf einen Teil der Bevölkerung reicht heute aus für die Ziele, um die es geht.
Ein Problem liegt auch im Verständnis dessen, was Kritisches Denken bzw. wissenschaftspropädeutisches Denken denn genau ist und wie und ab wann es erworben wird.

Wie die Didaktiker von criticalthinking.org bereits in vielen Erprobungen praktisch zeigen konnten, kann und muss man ganz früh in der Bildungsbiographie damit beginnen. Es geht dabei weniger um die vom Studium abgeleiteten äußeren Fertigkeiten (z.B eine zusammenhängende Hausarbeit mit richtigem Zitieren und Literaturliste zu produzieren. Der Fokus von criticalthinking.org ist stattdessen tatsächlich auf die Prozesse des Denkens selbst und auf den Versuch, allgemeine Prinzipien, Methoden und Prozeduren zu didaktisieren, ausgerichtet.

Da wir die Wissenschaft, die sich denkend mit dem Denken beschäftigt, die Philosophie, nicht als obligatorisches Fach in der Schule haben, stellt sich die Frage: Wo in der Schule wird das Denken Lernen explizit von Allen gelernt?
Der Deutschunterricht (nebst Latein und Griechisch) war in der Buchdruckgesellschaft der klassische Denkunterricht. Damals dachte man „geisteswissenschaftlich“ (als Komplement zu den „neuen“ Naturwissenschaften), und das hieß, „literarisch“ waren nicht nur die Gegenstände, sondern auch die Denk- und Darstellungsweise. Heute ist dieses Denkenlernen an klassischer Literatur selbst zu historisieren. Entspricht es überhaupt noch den Weiterentwicklungen, die Erkenntnistheorie und Gesellschaftwissenschaften mit Soziologie, Medienwissenschaften, Psychologie etc. hin zu größerer Wissenschaftlichkeit durchgemacht haben?
Die Klausuren der Oberstufenreform haben den Essay, den Fachaufsatz
in allen Fächern eingeführt. Das ist ein Fortschritt gewesen. Aber hier liegt der Fokus oft isoliert auf der Einzelwissenschaft und ist sehr speziell. Brauchen wir also als Ergänzung ein allgemeines Denken-Lernfach?
In der Profil-Oberstufe der Hamburger Schule ist das problemorientierte fächerübergreifende Lernen erstmals strukturell organisiert, verknüpft mit dem sog. „Seminarfach“, in dem es um Methoden – i.d.R. verstanden als Lernmethoden – geht. Hier wäre ein Ort dafür. Aber auch da in jedem Falle zu spät.

Ein Zusammenspiel von Problemorientierung und Systematik, von Learning by Doing und Metareflexion, von Wechsel zwischen Abstrakt-Allgemeinem und Konkret-Besonderem wäre der Kern des Denken Lernens in der Schule von Anfang an. Es kommen dann vermutlich ganz andere Denker (mit reflektierten Denkroutinen) in der 10. Klasse an.

Ein Wort zur Medienkompetenz

Ja, wird gebraucht. Aber Medienkompetenz ist nicht möglich für sich allein – es sei denn, man versteht darunter die Reduktion auf den technologischen Aspekt, was leider sehr verbreitet ist. Die meisten Versuche, den kulturhistorischen gesellschaftlichen Aspekt von Medien zu berücksichtigen, sind additiv, nicht inklusiv und gehen von der Technik aus. Das führt dann allenfalls zur Frage: Was macht die Technik mit uns? Aber: „Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.“ (Lichtenberg). Fragen zur Medienkompetenz sind in diesem Sinne stattdessen Fragen der Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften, Philosophie, in die die Technik-Fragen eingebettet gehören.
„Medienkompetenz“ wäre dann im Kritisch Denken aufgehoben und nur als dessen Bestandteil sinnvoll zu verstehen, was nicht heißen soll, dass sie darin aufgeht oder etwa automatisch enthalten ist. Nichts ist automatisch. Nichts ist determiniert. Alles muss gemacht werden auf der Grundlage eines durchdachten Gesamt-Verständnisses.

Das heißt für mich im Umkehrschluss auch: Wer keine „(Neue)Medienkompetenz“ hat, der hatte vielleicht die historisch-konkrete Form kritischer Denkkompetenz mit dem alten Leitmedium (Buchdruck), die noch weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reichte – aber nicht mehr diejenige für das 21. Jahrhundert.

10 Gedanken zu „Kritisch Denken Lernen für Alle – Kern der Literacy von heute und morgen

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  3. Nach Beobachtung von Diskussionen in social media und #irl stelle ich fest, dass ich einen wichtigen Praxis-Stolperstein vergessen habe, explizit zu thematisieren. Hole ich hiermit nach:
    Nicht selten tritt das Missverständnis auf, worauf sich Methoden beziehen. „Aber wir haben doch ein Methodentraining für Lehrer!“ wird gesagt. Aber diese Methoden beziehen sich nicht aufs Denken, auf die Denkmethoden, sondern auf den Unterricht, günstigstenfalls auf Lernstrategien, bestimmte gewünschte Ergebnisse zu erreichen: „Gruppenpuzzle“, „Tischdeckchen“, „Vokabeltrainer“, und dergleichen mehr. Die wichtige und für uns Lehrer offenbar sehr ungewohnte Frage aber lautet: Was genau muss sich beim Denken abspielen, was ist die innere Denkoperation/Handlung? Alles andere ist nachfolgend. Und darum muss man sich immer fragen: „Wo bin ich? Auf welcher Ebene? Auf der des Denkprozesses (innen-außen), auf der Lernebene (Was ist, und wie ist „es“ zu lernen?), und zuletzt erst der Unterrichts-methodischen Ebene (Wie setze ich das in Unterricht um, wie organisiere ich das für die Lerngruppe?). Diese Ebenen sind keineswegs identisch, und auch die Reihenfolge der Bearbeitung ist nicht beliebig. Die letzte Ebene aber ist, was Lehrer am besten ihrer Ausbildung gelernt haben. Und weil man am liebsten tut, was man am besten kann, erst Recht unter dauerndem Stress und Zeitmangel, ist die Gefahr groß, diese Ebene ins Zentrum und Ausgangspunkt aller Überlegungen zu stellen. (Denn morgen früh in der 8a muss man vor allem wissen, was man in der Klasse „äußerlich“ tut. Die Dinge, und erst Recht Probleme mit den Dingen, folgen jedoch ihrer eigenen Logik.

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  5. Liebe Lisa Rosa,
    Deinen Beitrag habe ich noch nicht vollständig gelesen, freue mich aber schon auf den Moment in dem es soweit ist. Falls der aber doch nie kommt, so möchte ich Dich schon jetzt auf ein schönes Projekt eines alten Freundes von mir aufmerksam machen: „Learning to think“.
    http://www.freudeamdenken.de/ ein Projekt der Parmenides Stiftung.
    Einiges von Dir erinnert mich beim Überfliegen an die Ideen von Martin Hirsch und seiner Crew.
    Herzliche Grüße,
    Heiner Busch

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  8. Mit einiger Verspätung bin ich auf diesen tollen Artikel gestoßen. Vielen Dank für dieses systematische Nachdenken übers Nachdenken. Steht die Matrix der Denkoperationen, die ich sehr hilfreich finde, auch unter CC-Lizenz wie die Paper?

    Noch drei inhaltliche Anmerkungen:

    1.) Mir erscheint es wichtig, dass es ein Teil der zurecht von Dir angemahnten Metakognition ist, Schüler*innen über die vielen schädlichen Unzulänglichkeiten unseres nur scheinbar vollständig rationalen Denkens aufzuklären. Darüber habe ich vor einer Weile in meinem Blog geschrieben: http://bildungsluecken.net/474-denken-lernen-steht-in-keinem-lehrplan

    2.) Wie Du richtig schreibst, ist Philosophie die eigentlich geeignete Disziplin. Auch wenn das wahrscheinlich illusorisch ist, wäre die beste Lösung Philosophie zum Pflichtfach in allen Schulen zu machen. Unter anderem auch, weil Philosophie wie kein anderes Fach ermöglicht, auch über die digitale Welt nachzudenken. Wie leicht man aktuelle Digital-Fragen den klassischen Denk-Disziplinen der Philosophie zuordnen kann, zeigt folgende von mir erstellte Mindmap exemplarisch: http://bildungsluecken.net/wp-content/uploads/2017/04/Medien-und-Philosophie-2.png

    3.) Kritisches Denken muss nicht im Lehnstuhl erfolgen, sondern kann auch kreativ sein: Auf meiner Session „Mit Medien über Medien nachdenken“ auf dem ECBW17 an diesem Wochenende, habe ich ein paar Beispiele aus meinem Philosophie-Unterricht, wie man Schüler mit Medien über Medien kreativ nachdenken lassen kann. Hier die Folien zur Session, die auch ein paar exemplarische Arbeitsaufträge enthalten:

    Klicke, um auf Folien-Mit-Medien-%C3%BCber-Medien-nachdenken-bereinigt.pdf zuzugreifen

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      Und ja, die Matrix ist auch CC-BY. Du kannst sie benutzen mit Namensnennung u Verweis auf diesen Artikel als Kontext. Freu mich auch über Verbesserungen dur Umgestaltung u Ergänzungen der Matrix!

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